Hallo ihr Lieben!
Heute ist ein schöner Tag. Aus verschiedenen Gründen.
- Es ist Wochenende!
- Es wird langsam, aber sicher, Frühling.
- Ich habe Geburtstag! 🎉
Deshalb entführt meine Schwester mich und meinen Neffen heute in den Frankfurter Zoo. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal in einem Zoo war, aber zu dem Zeitpunkt konnte ich wahrscheinlich noch nicht über die Zäune, sondern nur hindurch schauen … Mal gucken, wie mir das heute gefällt.
Und weil es MEIN Tag ist, werde ich euch erst mal mit Taylor Swifts 22 quälen, bevor ich euch von den wichtigeren Dingen dieses Post erzähle. (Dass ich heute auf dieses Lied anspiele, habe ich mir übrigens vor rund fünf Jahren überlegt. Endlich kann ich den Notizzettel vom Kühlschrank nehmen!)
Obwohl – warum sage ich eigentlich „quälen“? Was ist passiert, dass man seinen eigenen Musikgeschmack (und anderes) als „Guilty Pleasure“ o. a. bezeichnet und sich selbst und die eigenen Vorlieben so schlecht macht? Diese Frage kommt für euch jetzt wahrscheinlich ziemlich plötzlich, aber nicht von ungefähr. Bleibt noch ein bisschen bei mir. Es geht nicht nur darum, dass wir uns selbst und andere mit der oben genannten Bezeichnung runtermachen, sondern auch um die Kampagne #RedMyLips, die in diesem April weltweit stattfindet und in eine ähnliche, noch weitaus wichtigere Richtung zielt.
Guilty Pleasure
Die vier Definitionen, die das Urban Dicitonairy für „Guilty Pleasure“ auflistet, haben eines gemeinsam: Jemand genießt etwas, von dem man weiß, dass man es nicht genießen sollte.
Musik, Filme, Mode – vollkommen irrelevant, worum es dabei geht. Der Kern dieser Bezeichnung ist die moralische Abwertung einer Sache oder einer Tätigkeit. Dinge, für die man sich schämt – weil einem eingetrichtert wurde, dass man sie nicht mögen darf. Du darfst keine Musik von Justin Bieber, One Direction oder Taylor Swift mögen, wenn du keine Weiße zwischen 10 und 15 Jahren bist. Du darfst keine Videospiele suchten, wenn du nicht männlich und unter 30 bist. Du darfst keine auffälligen knappen und gewagten Klamotten tragen und mögen, ganz zu schweigen von entsprechendem Make Up, wenn du nicht in der Horizontalen dein Geld verdienst. Du darfst die Farbe rosa grundsätzlich nicht mögen, wenn du nicht weiblich bist. Punkt, aus. Du weißt, dass „man“ diese Dinge nicht mag, nicht mögen darf. Warum? Du hast keine Ahnung. Tut man einfach nicht. Weil du aber trotzdem Gefallen daran gefunden hast, mit knallrotem Lippenstift und engen rosa Hotpants zu Shake it off, Midnight Memories oder Where are you now zu tanzen, tust du es heimlich, beim Kochen oder im Wohnzimmer, während dich niemand sehen oder hören kann. Und wenn dich jemand fragt, was du gestern Abend gemacht hast, dann antwortest du etwas zu spät und etwas zu leise mit „ferngesehen“ oder „gekocht“. Stimmt ja vielleicht auch – aber den unterhaltsamsten Teil, das Tanzen, hast du ausgelassen. Du fühlst dich schuldig, weil du etwas „verbotenes“ getan hast – und dann auch noch Spaß dabei hattest!
(Ich hoffe sehr, dass niemand von euch diese Szene tatsächlich schon so erlebt hat. Hoffentlich kann jeder, der das hier liest, ehrlich mit den Menschen in seinem Umfeld umgehen, ohne Ablehnung befürchten zu müssen.)
Wie kann es normal sein, dass der Gesellschaftsdruck einem Individuum vorschreibt, welche Musik oder Kleidung es zu mögen hat? Oder, umgekehrt, welche Musik oder Kleidung es NICHT zu mögen hat? Es wird vielleicht nicht immer explizit so formuliert, doch wenn jemand etwas – um bei dem Beispiel zu bleiben: die Musik von Taylor Swift – als Guilty Pleasure bezeichnet, ist klar, was derjenige davon hält. Okay, ja, er sagt im selben Atemzug, dass er selbst gern diese Musik hört. Doch er fühlt sich dabei ebenso schuldig wie du, wenn du das nächste Mal in der Küche tanzt und dich an dieses Gespräch erinnerst und daran, dass man sich ja schuldig fühlen muss.
Ich finde den Begriff „Guilty Pleasure“ absolut daneben. Jeder hat das Recht, selbst zu entscheiden, was einem gefällt und was nicht. Solange man niemanden damit verletzt oder stört, ist doch alles gut! Niemand sollte gezwungen sein, allein und im Verborgenen das auszuleben, was die Öffentlichkeit und die Gesellschaft nicht als normal zu akzeptieren bereit sind. Wie oft habe ich mich dabei ertappt, gegenüber von Freunden und Familie meine Hobbys Lesen und Bloggen als Guilty Pleasure zu bezeichnen …
Victim Blaming
Schlimmer noch wird es dann, wenn die Dinge, die einem Spaß bereiten, als Waffe gegen einen eingesetzt werden. Hierfür löse ich mich vom Taylor Swift-Beispiel und wechsle hinüber zu Kleidung und Make Up. (Taylor Swift ist allerdings auch bekannt für ihren markanten roten Lippenstift – so schlecht ist ihr Beispiel also auch an dieser Stelle nicht.)
Wieder hoffe ich, dass sich an dieser Stelle niemand angesprochen fühlt und ich bin sehr froh, weder aus meinem Bekanntenkreis jemals etwas ähnliches gehört noch etwas derartiges selbst erlebt zu haben. Dennoch gibt es genug Menschen, die sexueller Belästigung oder Vergewaltigung ausgesetzt waren – und denen dann auch noch die Verantwortung und Schuld zugeschoben wurde. Es ist egal, ob ich persönlich betroffen bin oder nur vom Hörensagen von diesem Problem erfahren habe: Jeder sollte sich zu diesem Thema informieren, mich eingeschlossen, da man sich zwangsläufig irgendwann entweder in der Rolle des Opfers oder als Teil der Gesellschaft drum herum wiederfindet. Ich möchte nicht Teil einer Gesellschaft sein, die das sogenannte Victim Blaming betreibt. Doch bevor ich Anfang März von der #RedMyLips Kampagne durch Anna von Ink of Books erfahren habe, war auch mir das Ausmaß dieses Problems gar nicht bewusst, obwohl ich wusste, dass es existiert. Ich habe mich schlicht nie in einer Situation befunden, in der ich mich mit dem Thema hätte auseinander setzen müssen, und einfach weiter in meiner Blase gelebt.
Victim Blaming umfasst nicht nur die wörtliche Übersetzung, das Beschuldigen der Opfer, sondern beginnt schon mit scheinbar harmlosen Fragen wie „Was hatte sie denn an?“ oder „Warum hat er sich denn zu der Zeit ausgerechnet da herumgetrieben?“ Diese Fragen zielen auf nichts anderes ab, als das Opfer und seine Entscheidungen in den Fokus zu rücken. Mit „Wenn sie so herumläuft, muss sie doch damit rechnen.“ oder „Was hat er denn erwartet?!“ werden die Äußerungen dann schon konkreter.
In Bezug auf Vergewaltigungen gibt es noch einen so interessanten wie erschreckenden Aspekt: Wenn man vorbeugende Maßnahmen treffen möchte, um überwiegend (aber nicht ausschließlich) junge Mädchen zu schützen, geht es immer um genau das: Schutz der potentiellen Opfer. Verteidigung im Ernstfall. Niemand schaut sich die potentiellen TäterInnen auch nur an! Man trainiert, wie die Opfer sich wehren können. Man greift auf Hilfsmittel für Sicherheit (Keuschheitsgürtel; Kleidung, die keine Haut zeigt), Abwehr (Pfefferspray, Notfallpfeifen) und Verteidigung (Selbstverteidigungskurse) zurück. Diese ganze Maschinerie wirkt auf mich wie ein makabres Weihnachtsgeschenk, das dem Angreifer präsentiert wird: blickdicht verpackt, eine Schleife drum gebunden und damit eine unübersehbare Herausforderung, das Paket zu öffnen. Und im Inneren wartet vielleicht genau das, was man sich gewünscht hat. (Beim Schreiben dieses Satzes ist mir echt übel geworden. Bitte entschuldigt.) Wieso rührt man keinen Finger, um die Gesellschaft so zu erziehen, dass niemand auch nur auf die Idee kommt, jemand anderen zu vergewaltigen oder zu belästigen? Warum ist es immer noch akzeptabler, jemanden darauf zu trainieren, Angreifer abzuwehren, als darauf, gar nicht erst anzugreifen? Es geht mir einfach nicht in den Kopf. Gleichzeitig bin ich erschrocken, dass insbesondere die Frage „Was hatte sie denn an, als das passiert ist?“ auch für mich so eine lange Zeit zwar merkwürdig, aber irgendwie auch selbstverständlich und unumgänglich war.
Der Zusammenhang zwischen Guilty Pleasure und Victim Blaming ist für euch vielleicht nicht ganz so naheliegend, wie er mir momentan erscheint. Deshalb lasst mich meine Gedanken kurz erklären: Wenn du (das allgemeine du) immer schon eingeimpft bekommen hast, dass ein kurzer Rock und eine enge Bluse, am besten noch kombiniert mit auffälligem Make Up, verwerflich ist und es sich für „vernünftige Leute“ nicht gehört, so auf die Straße zu gehen, dann ist die gedankliche Verknüpfung von „Wenn ich diese Kleidung trage, die ich liebe – was sich ja nicht gehört, also ist sie ein Guilty Pleasure, wenn ich sie trotzdem mag – gehen die Leute davon aus, dass ich leicht zu haben bin. Ich sollte lieber etwas anderes anziehen …“ und „Ob der/die VergewaltigerIn wohl dachte, das Opfer wäre leicht zu haben, weil der-/diejenige diese Kleidung getragen hat? Warum hat er/sie das denn angehabt? Weiß er/sie denn nicht, dass man das nicht macht?“ gar nicht mal so weit hergeholt. Kurz gesagt: wenn du selbst dich schuldig fühlst, überträgst du diesen Schuldgedanken automatisch auf deine Mitmenschen. Wenn du tief im Inneren glaubst, du bist selbst schuld, wenn dich jemand angreift, weil du deine knappen Lieblingsshorts oder deinen neuen knallroten Lippenstift getragen hast, dann erwartest du, dass andere ebenfalls selbst schuld sind und behandelst sie entsprechend.
Ich weiß nicht, wie ich mein Gedankenkarussell treffender ausformulieren soll und hoffe, ihr begreift, was ich damit sagen möchte. In meinem Kopf ergibt dieses Konstrukt einfach überhaupt keinen Sinn. Wie kann das der aktuelle Standard unserer Gesellschaft sein? Wie kann die Entscheidung von jemandem, eine kurze Hose, einen Lippenstift oder ein offenes Hemd mit nichts darunter zu tragen, rechtfertigen, dass jemand anderes übergriffig wird? Sieht denn niemand, wie unlogisch das ist?
#RedMyLips
Es gibt Menschen, die diese Problematik sehen und darauf aufmerksam machen. Die Kampagne Red My Lips, geführt von einer internationalen Non-profit-Organisation mit demselben Namen, findet seit 2013 jedes Jahr im April statt, da der April der Sexual Assault Awareness Month ist.
Ziel ist die Aufklärung über Victim Blaming, Rape Myths und sexuelle Übergriffe, die Unterstützung der Opfer und, langfristig gesehen, eine Veränderung unserer Kultur, in der Vergewaltigung (und viele andere Dinge) leider zu oft und zu einfach durch das Tragen bestimmter Kleidung u. a. legitimiert wird.
Mitmachen ist einfach: Man kann Geld spenden, eine eigene Fundraising-Kampagne starten oder, unabhängig vom Geld, einfach roten Lippenstift tragen und so auf das Thema aufmerksam machen. In Sozialen Netzwerken empfiehlt sich dabei die Verwendung des Hashtags #RedMyLips.
Ich habe mich für letztere Methode entschieden. Denn auch das bisschen Farbe im Gesicht kann ausreichen, um einen Teil zur Kampagne beizutragen: Die Menschen sehen die roten Lippen, sprechen dich (wahrscheinlich) darauf an. Das kann in Form von Kritik sein, es könnten aber auch Komplimente sein. In meinem Fall war die erste Reaktion Kritik: „Bist du in einen Farbtopf gefallen?“ Vielen Dank auch, dachte ich mir, und habe den Link zur Kampagne geteilt. So schmerzhaft Kommentare wie dieser auch sein können: Ich finde es wichtig, über die Problematik zu sprechen und auf die Red My Lips-Kampagne, grundsätzlich aber auf das Thema aufmerksam zu machen.
Deshalb nutze ich meinen Geburtstag für diesen Artikel. Weil sowieso viele Leute heute mit mir sprechen wollen (viel zu viele für meinen Geschmack), kann ich vielen Menschen von #RedMyLips erzählen – und weil ich quasi nie geschminkt bin und ziemlich helle Haut habe, springt mein knallroter Lippenstift direkt ins Auge. Der perfekte Einstieg ins Gespräch, findet ihr nicht auch?
Über die Geschichte der roten Lippen hat Anna übrigens einen schönen Artikel geschrieben, ebenfalls im Rahmen der Kampagne. Schaut doch mal dort vorbei, es lohnt sich. Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Trend schon so lange vor Marilyn Monroe anfing!
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