Eine halbe Stunde vor dem Abflug stürmt ein Flughafenbeamter den Smoke-Room. „Anybody here for the flight to Delhi? We wanted to remove your luggage, we were looking for you!“ So eine Hektik erlebt man selten beim Einchecken. Man kennt ja die Normalprozedur mit den durchschnittlich 97 zügig aufstehenden Menschen die ihren reservierten Platz um alles in der Welt erreichen wollen und das am Besten vor allen anderen. Bei uns war das Gegenteil der Fall und wir flogen sozusagen schon durch die Boardingschleuse.
Der Flug verlief reibungslos. Die Freude war groß und die Neugierde noch größer. Und so war es mir auch echt recht das mein Sitznachbar nach seinen gefühlten acht Whiskey-Cola, die er ohne Anstanden bestellte, anfing mir sein Leben zu erzählen. Gaurav, ein pendelnder Geschäftsmann mit einem Flugmeilenkonto, das mit dem letzten Level von Tetris vergleichbar war. Seine am meisten besuchten Anlaufstellen waren Frankfurt und Delhi. Was er aber wirklich machte war mir selbst nach mehrmaligem Nachfragen nicht klar geworden. War aber auch gar nicht so wichtig, denn er wies mich ein wenig in die indische Lebensart ein. Rechte und Linke Hand Regel. Links schmutzig, rechts sauber. Die Tätigkeiten kann man sich denken. Slumdog Millionär war auch absoluter Bullshit. So sind die Inder nicht. Wie sie aber wirklich sind konnte er mir nicht erklären. Das hätte zu lange gedauert. Irgendwann war dann auch der Topf an Themen erschöpft und musste durch eine Mütze Schlaf aufgefüllt werden. Das Problem daran war aber, nach einer gewissen Menge an Whiskey-Cola und einer untrainierten Blase muss man natürlich auch ab und an austreten. Der Alkohol verändert die Bewegungen und lässt einen einfach so auf den Sitz fallen. War mir egal. Auch die Anzahl dieser Toilettengänge war mir egal. Was mir aber nicht egal war, war die Tatsache, dass er nach einer Zeit anscheinend alles einfach noch schneller loswerden und nicht immer laufen wollte und so alles auf seinen Ausklapptisch erbrach.
Indien. Ein Land grenzenloser Möglichkeiten. Everything is possible in India. Das war der Leitspruch der mich unter anderem in dieses Land geführt hat. 1,3 Milliarden Menschen und nur ein viertel davon haben Toiletten, geschweige denn Häuser. Alleine schon diese Tatsache ist es wert eine solche Lebensart zu entdecken. Vorausgesetzt man will unseren deutschen Standart mit drei Toilettenpapierrollen und einer Klobürste pro Kabine durch ein Loch im Boden mit einem Wassereimer ersetzen. Zugegeben, wir haben einen hohen Standard an Hygiene und Sperenzien, aber wie steht man da, wenn einem das alles fehlt? Wie lebt man ein solches Leben? Überwinden manchen Ekels und aufgeben unnützer Angewohnheiten sind die Früchte die eine solche Reise mit sich bringt. Und Früchte reifen ja bekanntlich weiter, wenn man sie geerntet hat.
Die Menschen haben wenig bis gar kein Geld, sehen dich als reich an und versuchen dir, so blöd es klingen mag, jenes aus der Tasche zu ziehen. Im Verhältnis gesehen haben sie ja auch absolut Recht damit. Wir haben richtig viel Geld, wenn man es in der Wechselstube in Rupien umtauscht, doch wir haben nicht mehr viel Geld, wenn man die Rupien wieder in Euro verwandelt. Es ist fast wie ein Zaubertrick. Wechseln, reich, wechseln, geht so. So landen wir bei der ersten Zigarette am Flughafen gleich in der Hand eines sogenannten Schleppers. Sein Job ist es freundlich zu lächeln, sympathisch rüberzukommen und die Leute zu fragen ob sie denn das Erste mal in Indien sind. Leichtes Spiel hat er, wenn die Antwort ja ist, denn dann kann er in die zweite Stufe wechseln und den Zaubertrick abziehen. „Just ten euros for the taxi my friend! Very cheap!“ Und ich gebe zu, wir haben „Ja“ zur ersten Frage gesagt.
Die Kriminalität in Neu-Delhi ist laut unserem Reiseführer und einigen Geschichten sehr hoch. So verschwinden ab und zu auch mal ein paar Touristen, wenn sie in ein Taxi einsteigen. Mir war es zugegeben auch ziemlich flau im Magen als wir einstiegen und der „nette Mann“ uns einen anderen Fahrer zugewiesen hat. Ein etwas dicklich aussehender Inder der seine besten Jahre schon hinter sich hatte, aber auch nicht so aussah als wäre er der wohlbesonnener Opa von nebenan. Schweigsam ging es los und der Wahnsinn begann.
Hupen ist die einzige Waffe im indischen Straßenverkehr. Wer keine Hupe hat verliert. Wenn du laut und oft genug hupst wird dir Platz gemacht. Und wenn dein Fahrzeug dann auch noch möglich macht über die Dächer der anderen zu sehen, bist du der König und musst dich eigentlich an nichts halten. Ampeln, Kreuzungen ohne Ampeln, Gegenverkehr. Alles Lappalien. Das gilt übrigens auch, wenn du ein normal sterbliches Auto fährst. Oder ein Fahrrad. Beim Fahrrad wird nur das Problem sein, dass eine Fahrradklingel kein Autohupen übertönt und deine Lebenserwartungen auf ein Mindestmaß sinken. Aber Inder sind in dieser Hinsicht wie die Spartaner in dem Film „300“. Und natürlich gibt es motorisierte Zweiräder. Überall. Unsere Vermutungen lagen darin, dass wenn ein junger Inder die ersten Bartstoppeln spürt und anfängt das weibliche Geschlecht anziehend zu finden, muss ein Moped her. Koste es was es wolle. Ranjid hat schließlich auch eines. Dann wird Mustafa hintendrauf gepackt und man fährt. Egal wohin. Durch engste Gassen voller Menschen. Auf sechs-spurigen Straßen oder einfach durch den scheinbar undurchdringbaren Verkehr. Ohne Helm versteht sich. Frauen sitzen grundsätzlich quer auf der Hinterbank. Es sieht ein bisschen so aus als ob sie auf einer Parkbank verweilen. Eine Parkbank die 80 Sachen draufhat. Das alles zusammen vermittelt den Eindruck, dass die Leute die hier täglich dem Verkehr folgen entweder eine mutigere Rasse sind, was Unfälle angeht, oder einfach nur auf ihr Morgengebet vertrauen. Trotz allem gibt es im Verhältnis gesehen doppelt so viele Verkehrstote wie in Deutschland. Die meisten sind Fußgänger. Ist ja auch irgendwie verständlich. Wer geht schon mit einer Hupe spazieren.
Links eine Kutsche die von Kamelen gezogen wird, rechts eine Fahrradrikscha und wir mittendurch. So beginnt also unsere Fahrt durch Neu-Delhi. Unser Fahrer erweist sich auch nicht als einer, dessen Nebenjob es ist harmlose Touristen zu entführen. Er bringt uns stattdessen nachdem er uns gesagt hat, dass unser Hotel derzeit nicht verfügbar ist zu einem etwas schäbig aussehenden Tourist-Office. Kommt man in eine deutsche Stadt und ist fremd dort, ist es manchmal eine große Hilfe so ein Gebäude aufzusuchen. Man kann sämtliche Stationen erfragen, Hotels buchen, Zugverfügbarkeiten checken und einen kostenlosen Stadtplan einheimsen. Das ist in den Städten mit weniger als fünf Millionen Einwohnern der Fall. Wir sind aber in Fucking-Delhi. Und hier leben 16 Millionen Menschen.
Fünf Stufen nach unten und schon steht man in einem Vorraum in dem sieben weitere Inder sitzen und auf Arbeit warten. Der eine ist der Tee-Junge, der andere ist für die Züge zuständig, der nächste holt einfach nur das Essen, die anderen sind anwesend und warten. Ein trainierter Lächler kommt auf uns zu und führt uns in sein Zimmerchen in dem ein Schreibtisch mit einem PC steht. Wir setzen uns und warten einfach mal was passiert. Eine kurze Einführung in die indische Lebenstradition wird uns mit dem Punkt, dass die Gäste an oberster Stelle stehen, angeeignet und mit einem Tee unterstrichen. Als wir dann nach den unerreichbaren Hotels fragen wird uns eine Zeitung vorgelegt, in der auf der Titelseite steht, dass am Main-Bazar, dem Bezirk mit den günstigsten Unterkünften eine Bombe hochgegangen ist und die indische Polizei jetzt Razzien durchführt um die Verantwortlichen zu finden. Außerdem sind die Zufahrtsstraßen gesperrt. Zeitungen lügen nicht. Es muss also was dran sein und wir zücken unseren Reiseführer um nach weiteren Zimmern zu fragen. An diesem Punkt haben wir den Fehler begangen kein eigenes Handy dabeizuhaben. Uns wurde ein Telefon gestellt, die Nummern wurden aber von Smiley gewählt. Ein kurzer Satz auf Hindi und die Übergabe des Hörers an mich folgte. Die ganze Prozedur folgte fünfmal. Und fünf davon waren entweder Absagen wegen Überfüllung oder ein Angebot einer Suite für 250 US-Dollar die Nacht. Sollte ich in meinem Leben wieder in einer solchen Situation sein, werde ich meine Sachen packen, mich bedanken, den Tee bezahlen und mich auf die Suche machen ein geeignetes Zimmer für die Nacht zu finden. Aus Fehlern lernt man ja bekanntlich, aber ohne Fehler zu begehen kann man nicht lernen.
Die Pläne A, B,C und D wurden ausgehandelt und kalkuliert. Mit einem Zuschlag, der ohne Vertrag gefordert wurde. Wir hatten am Ende der Verhandlung dann einen Fahrer mit 24-stündiger Bereitschaft die uns zuteil war, die Hotelzimmer für jede Nacht innerhalb einer Woche und ein Ticket für eine Tigersafari in der Tasche. Und das alles für umgerechnet läppische 300 Euro. Im Grunde nicht teuer. Abzüglich dem Anfangs-Streß der uns erspart blieb, war es ein Tropfen auf dem heißen Stein. Kommen wir wieder zu einem weisen Satz „Im Nachhinein ist man immer schlauer“. Hätte Columbus gewusst, dass vor ihm statt Indien Amerika liegt, und jemand hätte ihm diesen Satz zum Zeitpunkt seiner möglichen Erkenntnis ins Ohr geflüstert – es wäre nicht gut ausgegangen. Aber Columbus kommt erst später zur Sprache.
Fakt ist: Im Alleingang hätten wir die Hälfte bezahlt.
Unser Fahrer, Dara Singh, ein ehemaliger angeblicher Wrestling-Profi mit der Statur eines Postboten, hatte sich zum Hobby gemacht, nur zu lachen wenn die Türe zufiel und er das angenehme Gefühl eines kalten und feuchten Kellers spürte. Er beantwortete Fragen emotionslos wie ein Geldautomat und wird uns auf unseren Wunsch in die sieben Stunden entfernte Stadt Jaipur fahren.
Drei Stunden Indien.
Alleine vier Stunden dauert es bis man aus dem Bezirk Delhi rausgefahren ist. Man merkt das, wenn der Straßenrand nicht mehr mit Zelten und Kiosken gepflastert ist. Ein Anblick der einen einfach nicht wegsehen lässt.
Menschen sitzen, stehen, liegen an der Straße. Jeder hat eine andere Aufgabe für diesen Tag. Millionen von Schicksalen wandeln umher und strahlen ein Gefühl des Unglaublichen aus. Der eine hat sein Motorrad zu Schrott gefahren und muss bei der Werkstatt um die Ecke eine neue Verkleidung anbringen lassen. Der andere hat es sich mit drei seiner besten Freunde vor einem Friseur gemütlich gemacht und genießt den Anblick der vorbeifahrenden Autos. Er verspeist dabei einen Kuchen der wahrscheinlich ein Geschenk war. Vielleicht hat er Geburtstag. Daneben stützt sich ein alter Mann auf seinen Stock und will sich vielleicht einfach nur ein Brot am nächsten Kiosk kaufen um den Abend über nicht zu verhungern. Nackte Kinder spielen im Dreck mit Steinen Fußball. Kühe stehen umher und füllen ihre sieben Mägen mit allerlei Müll und Essens-Resten. Es wirkt als wäre es das normalste der ganzen Welt. Ist es auch. Ein Anblick den man hier jeden Tag zu Gesicht bekommt. Alle zehn Meter.
Man stelle sich vor jeder Bewohner einer Stadt wirft seinen Müll auf die Straße und lässt ihn liegen. Jeder Bauer in der Umgebung lässt seine Tiere laufen. Hunde sind wie streunende Katzen. Streunend. Das alles nimmt dann für 20 Jahre seinen Lauf und die Menschheit, die dort lebt, gewöhnt sich daran. Sie gewöhnt sich daran, dass Wasser nicht mehr sauber werden kann. Sie gewöhnt sich daran im Dreck zu leben. Und sie gewöhnt sich auch daran, dass jeden Tag Leute aus aller Welt vorbeifahren um ihren den ihnen aufgezwungenen Lebensstil zu fotografieren.
Wie soll man ein solch eingefahrenes Leben ändern? Von so vielen Menschen. Man bräuchte alles Geld der Welt und zwei Erden um die Armut die in Entwicklungsländern herrscht, in den Griff zu bekommen. Dieses Thema ist aber ein anderes Paar Schuhe und gehört nicht hierher.
Eine Kutsche, gezogen von zwei Kamelen kommt uns entgegen. Der Verkehr bleibt stehen. Keine Stille, keine genervten Gesichter. Hupen und umdrehende Autos sind die Devise eines indischen Staus. Das Drehen ist auch gar nicht mal so einfach, wenn man auf einer zwei-spurigen Straße mit drei Spuren steht. Wie das trotzdem funktioniert? Dauerhupe und Geduld. Ist man mal gedreht ist das meiste geschafft, denn wenn dich dein Hintermann sieht, denkt er so was ähnliches wie „Ich muss umdrehen“ und dreht selbst.
Einer springt, alle springen.
Und irgendeiner hat mit Sicherheit dann auch die Idee sich einen neuen Weg über die parallel verlaufenden Feldwege zu suchen. Logischerweise wird er von ca. 30 Autos verfolgt. Und selbst wenn es da nicht weitergeht, kann man immer noch umdrehen. Man kann es also drehen und wenden wie man will, am Ende muss man doch warten. Es sind einfach zu viele.