ntropy ist eigentlich kein tagesaktueller Politik-Blog. Doch genau jetzt scheint mir eine Intervention in die Entropie der narkotisierenden Bilderfluten, Katastrophen-Berichterstattungen und Experten-Kommentaren angebracht. Wenn der Physiker Ralf Bönt in der Frankfurter Rundschau schreibt, dass jedes Kernkraftwerk nach dem Entropie-Satz (diesmal im wissenschaftlich physikalischen Sinne) früher oder später „kaputtgeht“, ist es an der Zeit, sich zu positionieren. Und zwar gegen beide Seiten der Opposition.
Dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen mithilfe persuasiver Musik unterlegte Katastrophenbilder präsentiert und daraufhin, vermutlich auch noch davon infizierte pseudo-empörte „Aktivisten“ und Politiker wie aus dem Nichts heraus eine extrem heuchlerische Atomausstiegsdebatte lostreten und dabei nebenbei ähnlich bedeutende Themen wie die revolutionsartigen Umbrüche im arabischen Raum in den Hintergrund drängen, ist noch perfider als die massive, wenn auch verdiente, mediale Dekonstruktion des zuvor jahrelang hochgejazzten Guttenberg. Wenn jetzt gerade einer der größten Katastrophen Japans mit Tausenden von Toten und Hundertausenden von zerstörten Häusern, Wohnungen und sogar ganzen Städten als Anlass dafür genommen wird, ganz plötzlich die „unmittelbare“ Gefahr der in Deutschland befindlichen AKWs als das zentrale Thema der letzten Tage zu etablieren, ist das der beste Beweis für die engstirnige und egoistische Kleinkariertheit des deutsche Sicherheitsbedürfnisses. Beim Biss in die deutsche Bratwurst tropft kontaminierter Senf auf die Fassade des deutschen WM-Weltbürgers.
66 Jahre nach der Gründung der Vereinten Nationen und nach mehr als hundert Jahren kultureller wie wirtschaftlicher Globalisierung, interkulturellen Kompetenzen, internationalen Handelsbeziehungen und einer langen Tourismustradition fällt den Menschen hier nichts Besseres ein, als um ihr eigenes Wohl zu bangen, wenn auf der anderen Seite der Erde, zunächst mal aufgrund tektonischer Erdplattenverschiebungen und nicht radioaktiver Verseuchung, Menschen sterben? Es scheint wohl schnell vergessen zu werden, dass unsere fragile digitale und analoge Umwelt fast nur noch aus Hochtechnologie besteht und dass der Strom für die allabendliche Abstumpfungs-Session in den Fernsehern der Nation aus Quellen stammt, deren Ressourcen zutiefst zivilisationsfeindlich sind.
Statt angemessenen Solidaritätsbekundungen, Spendenaufrufen und einer objektiven Berichterstattung werden weiterhin politische Dumpfbacken ohne Rückgrat in Talkshows eingeladen, die sich nicht trauen, dem bei Anne Will geladenen und mehr als zu Unrecht beschwichtigenden Botschafter Japans ins Gesicht zu sagen, dass man eigentlich ganz anderer Meinung ist. Atomkraft ist und bleibt ein problematisches Thema und an der realen Gefahr radioaktiver Strahlung soll hier bei Weitem nicht gezweifelt werden. Zweifeln sollten wir eher darüber, ob die Medien und wir als Zuschauer überhaupt über ein Minimum an Pietät verfügen. Die ganze Debatte hätte jedenfalls genauso gut auch noch Wochen später geführt können, wenn sich die Aschewolken der Hysterie, die sich gerade in unser Bewusstsein einzubrennen versuchen, wieder abgekühlt sind.
Die Beherrschung der Natur ist einer der wichtigsten Wesensmerkmale kapitalistischer Gesellschaften, wussten schon die Philosophen der Frankfurter Schule. Heute wissen wir umso mehr, dass die Menschheit eigentlich längst den Kampf gegen die Technologie verloren hat. Der Mensch ist nicht in der Lage, sie zu beherrschen, so wie er sich selbst nicht beherrschen kann, ohne sich dabei erheblichen Schaden zuzufügen, auch wenn das Thomas Hobbes anders sehen würde. Der Philosoph Hans Jonas schreibt 1979 in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“, dass wir in Bezug auf die hoch entwickelte Technologie statt mit einer Ideologie der universellen Machbarkeit besser mit einer Heuristik der Furcht reagieren sollten. Und so schreibt Christian Schlüter in der Frankfurter Rundschau. „Schlechtere Prognosen sind immer dann den besseren vorzuziehen, wenn sich eine Technologie, die keine Fehler verträgt, als fehleranfällig erweist.“
Was die Medien angeht, so sollten wir uns darüber klar werden, dass die Thesen des Medienkritikers Neil Postman heutzutage aktueller sind denn je, denn: Wir amüsieren uns zu Tode. Wir brauchen keinen Big Brother zu befürchten, denn wenn überhaupt, sind wir unser eigener großer Bruder, der sich mithilfe medialer Narkotika selbst kontrolliert. „Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es unterhaltsame Themen präsentiert; problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert.” (Neil Postman in „Wir amüsieren uns zu Tode“, 1985)
Text: Phire