Hyperrealität und Entropie

Von Ntropy @ntropy

In meinem letzten Artikel “Das Internet und die Entropie” habe ich versucht den interessanten und für diesen Blog namensgebenden Begriff der Entropie näher zu erläutern. Gerade in Bezug auf aktuelle mediale Entwicklungen ist die Entropie ein interessantes Konstrukt. Ebenso verhält es sich mit dem von Jean Baudrillard geprägten Begriff der Hyperrealität. Die Hyperrealität ist, verkürzt dargestellt, eine Transformation des Realen aufgrund einer medialen Perspektive. Im Folgenden möchte ich diesen Begriff näher erläutern.

Im Zuge meiner Recherche bin ich auf einen äußerst interessanten Autor gestoßen, der das Thema auf seine Art und Weise aufarbeitet. Der Beschreibung nach ein Autor der sehr gut zu “ntropy.de” passt und sich mit Themen beschäftigte, die auch Sujet unseres Blog waren: Satire oder Verfehlung? George A. Romero`s Survival of the dead. Das hier besprochene Buch ist ein kulturwissenschaftlicher Essay unter Anwendung Baudrillards Theorie der Hyperrealität. Der Ausgangspunkt meiner Betrachtung soll also gleichzeitig eine Buchempfehlung sein: „Schlachtfelder der elektronischen Wüste“ oder besser „Die Figur des Helden im Zeitalter der Simulation“ von QRT (Merve Verlag Berlin, 1999).

Der  leider zu früh verstorbene Autor Markus Konradin Leinder (1965 – 1996) mit dem Pseudonym QRT hatte ein bewegtes Leben und erinnert in der dem Buch anhängigen Kurzbiographie an einen Gibsonschen Cyberpunk der Berliner Wendezeit:

Schädel und Silhouette im Nahkampfschnitt, Combat Boots, BW-Overall oliv, im Winter eine Lederjacke mit Frettchenbesatz, im Sommer ein geripptes Spaghettiträgerunterhemnd zur kurzen Stars&Stripes Turnhose, und unvergessbar: der notorische schwarze Aktenkoffer (…). Kettensägenschwingende Perverts wurden (bei ihm) zu Inkarnationen der archaischen Gewalt des Signifikanten, George Romeros Zombieheere, die in Supermärkten herumirren, zu Symbolen entseelter Alt-68er Wohlfahrtsstaat-Existenzen.“(S. 122 ff.)

Hyperrealität, wie Sie vom französischen Soziologen Jean Baudrillard beschrieben wurde, bezeichnet aus medientheoretischer Sicht  die Verdopplung des Realen auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums. Von Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale ähnlich des „Stille-Post-Prinzips“. Dadurch  verschwindet in der Hyperrealität die Trennlinie zwischen Realem und Imaginärem. Sehr deutlich ist dies anhand der neueren Fernsehformate des Infotainment oder des „Reality-TV“ zu erkennen.

Sendungen, wie beispielsweise „Die Super-Nanny“, „Richterin Barbara Salesch“ oder aktuell „Berlin – Tag & Nacht“, welches darüber hinaus noch als crossmediales Wunderformat gilt, machen es uns sehr schwer Fakten von Fiktionalem zu unterscheiden. Sie befördern gezielt die Verwischung zwischen Realem und Imaginärem. 

Man selbst kennt es vielleicht von seinen eigenen Gedanken während des Terrorangriffs auf das World Trade Center am 11. September 2001: „Passiert das gerade wirklich, was wir da live im Fernsehen sehen?“.

Hierzu empfehle ich Baudrillards Artikel “Requiem für die Twin-Towers.“

Via wallyg on FlickR

Im „Web 2.0“ wurde die Trennlinie zwischen Realem und Hyperrealem ein weiteres Mal verschoben. Die bereits im letzten Artikel “Das Internet und die Entropie” zitierte Filter-Bubble, engt unseren Blick auf die Hyperrealität (sic!) weiter ein. Baudrillards vielzitierte These vom Verschwinden der Realität wird fälschlicherweise oft so interpretiert, das die Realität verschwinde und nichts mehr zurück bliebe. Dies ist jedoch falsch. Vielmehr muss die These so gedeutet werden, dass das, was wir als Realität ansehen, durch die Hyperrealität ersetzt wird [siehe Fußnote 1].

Dass dieses Phänomen viel mit Entropie und dem Blick auf die neuen Medien  gemein hat, lässt sich auf den ersten Blick erkennen. Bei QRT wird der Zusammenhang von Entropie und Hyperrealität anhand der griechischen Mythologie erklärt: Prometheus, welcher den Menschen das Feuer brachte und damit als Kulturstifter gilt, steht bei QRT für denjenigen, der die Medien für die Menschen nutzbar machte. Der Gegenspieler von Prometheus ist Typhon, ein Ungeheuer,  welches die Erde (Gaia) gemeinsam mit der Unterwelt (Tartaros) zeugte. Wenn also Prometheus das Medium für die Menschen benutzbar machte, dann ist Typhon, sein Gegenspieler, das Maximum an Infomativität; die Entropie.

Wenn also Medien und Entropie – beides Kinder der Erde und damit der Realität – Gegenspieler sind, dann ist die Hyperrealität ein Hybrid der beiden: Die Aneignung der Realität durch die Zügelung der Entropie mithilfe der Medien.

Sind wir also von der Hyperrealität abhängig, um am immer komplexer werdenden Weltgeschehen teilzuhaben? Ist Reality-TV und Infotainment eine logische Konsequenz dieser Entwicklung?

Im nächsten Artikel werden diese Themen anhand eines medialem Phänomens besprochen: Der amerikanische Held im Spannungsfeld zwischen Entropie und Hyperrealität …


[1] (Diese Beschreibung der Hyperrealität bei Baudrillard fußt auf der exzellenten Zusammenfassung von Christian Schlieker (2001):  Die simulierte Gesellschaft?