Hundertstelcentisierung – oder das Croissant im Wurmloch

Alltag raus, Croissant rein! In Anlehnung an einen verflossenen Slogan der Tirol Werbung fasste ich gestern einen Entschluss. Ich weiß, wirkt g'rad so, als ob ich mir mit kleinen Entscheidungen schwer tun würde. Aber war das wirklich eine kleine Entscheidung? Im Blickwinkel einer gesunden Ernährung kann man heutzutage schon mal gewissenhafter als sonst abwägen, welches Croissant man in welchem Laden kauft – und warum eigentlich. Und seitdem ich von einem guten Freund, der Bäcker ist, weiß, welcher mythologische Staub beim frühmorgendlichen (maschinellen) Kneten aufgehen kann, wurde ich zunehmend vorsichtiger. Es kann ja überall hapern, wie bei den Zutaten, der Zubereitung und dem Herstellungsprozess. Wenn schon manche sogenannte "Biobäckerei" ihr Zertifikat bei einer Gütesiegel-Versteigerung erworben zu haben scheint, wie vorsichtig muss man als Konsument etwa bei einem herkömmlichen Brotladen sein? Noch dazu, wenn der Schuppen zu einer größeren Ladenkette in Tirol zählt. Vorsicht ist geboten. Denn isst man heute fließbanderzeugte Lebensmittel, rennen einem die Parteisoldaten der Unverträglichkeitsliga wegen diverser Nahrungsmittelzusätze schon mal flott ihre symptomatischen Lanzen in das organische Zaunvolk. Also wirklich eine kleine Entscheidung?
Freilich aber umsäuseln solche Überlegungen nur die Spitze des Eisbergs, taucht man unter, tut sich erst der volle Wulst teigig-gärender und grobstofflicher Verfilzungen auf. Denn was alles hängt bei einer Bäckerei dran! Bevor da überhaupt eine öffnet, wird nicht selten – weil auch planungssichernd –  über einen Kredit verhandelt. Das erste Gebäck fluoresziert da noch vor der Pforte eines zwischen zwei ad hoc menstruierenden Spiralgalaxien umherguckenden Wurmlochs. Also, es existiert schon, das Croissant, aber in einer Parallelwelt, die man vielleicht bekifft erahnen kann, wenn man einem smarten Constulter beim Kopfen zusieht. Und zieht jener den zukünftigen Bäckerei-Eigentümer über den Tisch, beißt man von seinem Brot den einen oder anderen von der  Geschäftsführung notgedrungen aufgeschlagenen, imaginären und per Gierdekret erworbenen Consulter-Cent mit ab.
Wir machen einen kometenähnlichen Flug über den an die Wand gemalten Bäckereibau oder deren Einquartierung in eine flugs aufgestellte Shoppingmeile hinweg, und nehmen die Schürzen der Verkäuferinnen genauer unter die Lupe. Zwar ist am rechten Schulterträger das rote Tirol-Logo aufgenäht, dafür haben diese im Batgirl-Design geschnittenen Sexydinger auf ihrer Schiffsreise durch den indischen Ozean und den Suezkanal schon mehr von der Welt gesehen, als ein paar öde Dreitausender, deren Gletscher bereits zittern, als würden sie sich gerade Fred Zinnemanns "Zwölf Uhr mittags" als Lichtspiel am flimmernden Firmament reinziehen. Apropos: In Taiwan dürfen nun viele Kinder endlich unbezahlten Urlaub machen, da dort der Baumwollstoff rar geworden ist. Grund: Die Bundesregierung bestellte nach dem Tirol Werbung-Coup für das Heer eine verheerend große Anzahl an Halstüchern der Sorte "John Wayne", um allzu schlau glotzenden Rekruten einen sinnvollen Identifikationsaspekt zu injizieren. Wo waren wir? Ach ja! Die Schürzen! Als die Verkäuferin sich vier Mal rasch die Hände an der ihrigen abtätschelte, wusste ich natürlich nicht, ob das eine energieentladende Geste, und deshalb nervösen Ursprungs war. Versuchte sie Zeit zu gewinnen?
"Ein Croissant und ein Schokocroissant – macht 3,01 Euro!" In diesem Moment war ich die Hyde-Version von Gary Cooper. Ich zog nicht schnell, dafür schmierig und ohne spockisierende rechte Augenbraue meinen frisch bankomatgezogenen Zehner aus dem durchsichtigen Plastikschoner-Portemonnaie. Von mir aus, dachte ich (beziehungsweise: mit mir nicht!) Die Steigung spannte sich, als ich der jungen Frau den sorgfältig aufgeklappten Schein über den Tresen reichte. Hatte ich eben keine Vorsorgerechnung angestellt, denn wie die Schularithmetik verklickerte, macht 1,22 Euro (Croissant) und 1,79 Euro (Schokocroissant) im Gesamten – richtig. Und nicht 3,05 oder 3,10 – oder faderweise 3,-. Ich weiß nicht mehr genau, wieviel ich an Rückgeld erhielt, ich habe es verdrängt und verdränge es noch immer, doch nachträglich betrachtet fühlten wir uns beide in dieser Situation nicht ganz wohl.
Im Kapitalismus ging es zumeist nur einer Seite schlecht:  Wie jenen Menschen, die kaum "Marie" hatten, und somit vom materialistischen Wertesystem manierlich missachtet werden konnten (aber denen man trotz alledem den letzten Groschen aus dem Sack lupfte). Im Gegensatz dazu schafft es der "Geht es der Wirtschaft schlecht, geht es uns allen schlecht"-Neoliberalismus neben einer aufwieglerischen Gleichschaltung nun auch für eine klausulierte Preisgestaltung zu sorgen, und so durch geschickte Hundertstelcentisierung gerne eine zwanghafte Handlung bei einer der beteiligten Personen provozieren, die in obigen Fällen entweder eine Auf- oder Abrundung des Betrags zur Folge haben kann. Ich nenne das Schüren liberaler Kälte. Wenn die Freiheit einer Entscheidung systemgedungen manipuliert wird.

Hundertstelcentisierung – oder das Croissant im Wurmloch

Das "0,61 Cent-Croissant" – die Hundertstelcentisierung ist auch privat anwendbar.


Hundertstelcentisierung – oder das Croissant im Wurmloch

Aus meinem Plastikschoner-Portemonnaie zog ich den Zehner.



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