Die Berliner von Reprodukt bewiesen schon mehrfach, dass sie einer leise und spannend erzählten Geschichte immer den Vorzug gegenüber einem effektüberladenen Szenario einräumen und daher überrascht es auch nicht wirklich, dass der Geniestreich aus den Federn von Hubert & Kerascoët unter dem Titel Fräulein Rühr-mich-nicht-an, dort seine deutsche Verlagsheimat fand.
Hubert lieferte das Szenario, welches in den 1930ern in Paris angesiedelt ist und das Künstlerduo (Marie Pommepuy und Sébastien Cosset) welche unter dem gemeinsamen non de plume Kerascoët veröffentlichen liefert seine unverwechselbaren Zeichnungen ab, welche bereits bei Jenseits (Reprodukt)[Rezension hier]überzeugten und verstörten.
Undauch beim neuen Titel wird nicht mit Brutalität und Grauen gegeizt, ein sadistischer Frauenmörder versetzt Paris in Angst und Schrecken, seine zerstückelten Opfer werden immer wieder an den Ufern der Seine entdeckt, wohingegen der Täter unentdeckt bleibt.Und mitten in diesen Totentanz platzen die beiden Schwestern Agathe und Blanche hinein, Arbeitsmigrantinnen aus der Provinz, welche in der großen Stadt hoffen als Zimmermädchen glücklich zu werden.
Die lebenshungrige Agathe wirft sich mit Hingaben in die Arme der Stadt und geniesst sinnlich jeden einzelnen Moment ihres Aufenthalts, während ihre Schwester krank vor Angst allnächtlich in der regenfeuchten Dachkammer auf ihre Rückkehr wartet. Und dann geschieht das Unglück, Agathe wird ermordet, niemand will der hysterischen jungen Dame vom Land glauben, die Akten sprechen von Selbstmord statt von Mord und Blanche muss sich selbst helfen, will sie ihrem Rachegelübde gerecht werden.
Und so strandet diese Unberührte bei ihrer Recherche nach den Mördern ihrer Schwester im Rotlichtmilieu und wird schnell als die neuste Attraktion eines Pariser Edelbordells stadtbekannt, wo sie vor den Anfeindungen ihrer Kolleginnen und den übergriffigen Avanchen der Luden und ihrer soziopathischen Helfern nicht lange verschont bleibt. Einzig die schwarze Madame-Monsieur Joséphine und die puppengleiche Annette bieten ihr Schutz in der feindlichen Umwelt.
Die Zeichnungen erscheinen auf den ersten Blick witzig, fast schon lieblich, aber auch sie können die Gewalt des Milieus nicht überdecken. Den beiden Zeichnern und dem begabten Szenaristen ist es zu verdanken, dass wir hier die stimmige Überkreuzung eines spöttischen Sittengemäldes mit einer packenden Kriminalgeschichte vorfinden, die zu überzeugen und zu gefallen weiss, denn keine der Figuren wirkt aufgesetzt, alle Charaktere, selbst in den Nebenrollen sind stimmig und glaubwürdig.
Ein besonderer Moment war für mich die Aussparung eines Panels im zweiten Teil, hier gerät Blanche in eine extreme Situation, welche ihr Leben gefährdet. Anstelle einer Darstellung ihrer Gegenwehr liefern Kerascoët aber nur ein weisses Quadrat, welches den Leser eigenständig weiter denken lässt. Diese Form der suggestiven Bildsteuerung macht deutlich, welche Meister ihres Faches hier am Werk sind. Es bleibt aber nicht bei diesem kurzen Moment der exzessiven Gewalt, denn die Lösung des Mordes an Agathe gestaltet sich als ein erschreckender Ritt in das Dunkel der Pariser Nacht und in die Perversion der Mächtigen, waren doch alle Opfer sogenannte "kleine Leute".
Der politische Subtext, der von Hubert eingeflochten wird ist fast unübersehbar, aber er drängt sich niemals auf - glücklicherweise, denn so bleibt ein raffiniertes Stück Comickunst mit viel Bildwitz und Einfühlungsvermögen zurück, welches Lust auf den dritten Band macht, welchen Reprodukt bereits für Dezember 2010 angekündigt. Bleibt abzuwarten, wann der bereits in Frankreich vorliegende vierte Teil seinen Weg in unsere Regale findet. Ich muss sagen, mir wird es schwer fallen zu warten, denn mich überzeugt diese Serie bislang so sehr, dass ich ohne Murren eine Flaneurempfehlung gebe.
Leseproben zu Band #01 und #02 findet ihr hier. Käuflich erwerbbar sind diese Schätze aus Farbe, Tinte, Tusche und Text hier (Band #01) & hier (Band #02).