Sie tragen dunkelblaue, seidig glänzende Uniformen und aufgeklebte Schnurrbärte. Ihre Augen sind dunkel umrandet, das Gesicht hell geschminkt und abgesehen von der unterschiedlichen Körpergröße ähneln sie sich wie ein Ei dem anderen. Willkommen in der Zeit, die man in der Sprache der Kunst Theater nennt.
„Hotel Europa oder der Antichrist“ im Akademietheater ist ein Projekt frei nach Joseph Roth. Antú Romero Nunes ergänzte die Roth-Texte, die Florian Hirsch zusammenstellte, mit zeitaktuellen Aussagen des Ensembles und vielen Querverweisen aus der Literatur, aber auch Banalitäten aus dem Alltag, zu einem dunklen, vorahnungsschwangeren Theaterabend, in dem der Krieg nicht nur Geschichte ist.
Michael Klammer, Fabian Krüger, Katharina Lorenz und Aenne Schwarz übernehmen darin geschlechterübergreifend alle Rollen. Beginnend mit den vier Soldaten, über den Stationschef Fallmerayer aus Roths gleichnamiger Novelle, bis hin zu dessen Geliebter Gräfin Anja Walewska und den beiden Clowns in der Schluss-Szene. Das Bühnenbild (Matthias Koch) – ein schwarzer, in die Tiefe gestaffelter Raum – vermittelt weder Lebensfreude noch Zuversicht. Was hier verhandelt wird, hat Endzeitcharakter. Und verhandelt wird nicht nur der erste Weltkrieg, den Roth zwar nicht im Schützengraben, aber dennoch als freiwillig Eingerückter beim Pressedienst in Lemberg miterlebte. Verhandelt wird auch unser Zeitgeist, der aufgrund der Kriege im Nahen Osten und der Flüchtlingsbewegung im Herzen Europas ein Gefühl von höchster Instabilität aufkommen lässt.
Romero Nunes schuf eine Collage, die keine durchgehende Erzählung, aber dennoch in sich geschlossene Handlungen zeigt. In ihr ist das Theater ein Ort, in dem sich Vergangenes, Heutiges und Zukünftiges treffen. Die Geschichte des Stationschefs Fallmerayer, der im Krieg seine Angebetete, die er durch Zufall bei einem Eisenbahnunglück kennenlernte, wiederfindet, ist ein Erzählstrang. Die Liebe, die, die beiden darin über alle Unwägbarkeiten des Krieges trägt, wird zu einem der zentralen Themen des Abends. Die seelische Zerstörung jenes Soldaten, der miterlebte, wie Kirchenglocken zu Kanonen eingeschmolzen wurden und der nach dem Krieg Glockengeläut nicht mehr erträgt, ist ein anderer.
Dazwischen blitzen viele, auch unzusammenhängende Szenen auf, die mit Textzitaten versehen sind, die Kultcharakter erlangten. Wie jene Beschimpfung, die Klaus Kinski während des Drehs zu Fitzcarraldo dem Produktionsleiter angedeihen ließ. Diese unflätige Tirade wirft an einer Stelle einer der Protagonisten einem anderen an den Kopf. Aber auch ein Ausspruch der FC Bayern-Legende Ulli Höhnes hat auf die Bretter des Akademietheaters gefunden: „Für die miese Stimmung seid ihr selbst schuld!“ In der Inszenierung wird dieses Bonmot einfach dem Dalai Lama untergeschoben und erzeugt prompt allgemeines Publikumsgelächter. Mit literarischen Weihen bedacht wird, was mediale Weihen erlangte. Und sei es auch noch so banal. Der Kontext bestimmt die Wahrnehmung, eine Binsenweisheit, die nicht nur für die Bildende Kunst gilt.
Mehrfach stellt ein Mitglied des Ensembles an diesem Abend ein Schild mit der Aufschrift „Bitte ned stean“ an den Bühnenrand. Immer dann, wenn es darum geht, dass man sich untereinander unterhalten möchte; besser gesagt, streiten in den meisten Fällen. Eine Auszeit nehmen aus dem Geschehen, nur dass das Publikum dabei nicht einfach aufstehen, sich am Buffet laben, oder eine Zigarette anzünden kann. Dazu sind die Dialoge dann doch zu interessant. Nicht-spielen wird gespielt, aber die doppelte Verneinung des Theaters ergibt nichts anderes als wieder nur Theater pur.
Der Antichrist, der auch im Titel des Stückes vorkommt, wird an mehreren Stellen beschrieben. Roth, der in seinen letzten Pariser Jahren das Geschehen in Deutschland nach der Machtübernahme Hitlers mit großer Analysefähigkeit kommentierte, beschrieb den Antichrist als jemanden, der nicht als solcher erkannt werden würde. Aber er benannte explizit Deutschland und das Kleinbürgertum als jenes Übel, das die Welt vernichten würde. Auf der Bühne drückt dies einer der Soldaten durch eine drastische Körperhaltung aus. Ein Knie am Boden, das andere gebeugt, die Arme nach oben und seitlich abgewinkelt, erscheint der ganze Mensch als lebendes Hakenkreuz.
Die Verbindung in die Gegenwart wird durch einen Einschub von Michael Klammer geleistet. Darin rechnet er vor, wieviel Platz die Flüchtlinge, die derzeit nach Europa kommen, eigentlich verbrauchen, während er seine Worte mit Kritzeleien auf einer Flip-Chart unterstreicht. Dabei demaskiert er die aktuellen demagogischen Schreie nach Zuwanderungsobergrenzen im Handumdrehen. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Klammer schon seiner Maske entledigt. Noch einmal wird er sein Aussehen verändern und als Clown auf die Bühne kommen und als solcher am Ende auch bühnenwirksam sterben.
In grandioser Art und Weise darf Fabian Krüger zuvor jedoch noch in einem Conchita-Wurst-Verschnitt, mit tänzelnden Schritten, in die Luft gewirbelten Armen und zurückgeworfenem Köpfchen, sich bei einem Rendezvous zieren. Mehr schwebend als schreitend, verletzlich in Strapsen und High-Heels, die zwar die Anziehungskraft zwischen den Geschlechtern versinnbildlichen, dennoch aber nicht plump oder ordinär wirken, ziert er sich berückend vor der ersten gemeinsamen Nacht.
Das Happy End bleibt zwar aus. Aber nachdem das Ableben des Spaßmachers, das mit der Arie „Oh mio babbino caro“ feierlich begangen wird, vonstatten gegangen ist, wartet der Regisseur mit einem Schlussbild auf, für das es allein schon reichen würde, diese Vorstellung zu besuchen. Es verweist noch einmal auf des Soldaten Unbehagen vor eingeschmolzenen Glocken. Dabei erscheint es, dank eines alten, aber immer effektiven Bühnentricks, urplötzlich wie ein Raubtier aus einem Hinterhalt.
„Hinter den tausend Fäden keine Welt“, diese Ableitung aus Rilkes Gedicht „Der Panther“, die mehrfach an dem Abend zitiert wird, mag ausgelegt werden, wie man möchte. Ob als imaginärer Kerker wahrgenommen oder als Statement der völligen Orientierungslosigkeit, oder ob es andere Assoziationen sind, die davon ausgelöst werden, spielt letztlich keine Rolle. Der Satz taktet das Geschehen an mehreren Stellen und kitzelt damit immer wieder aufs Neue jene Hirnareale, die, koste es, was es wolle, Disparates zusammenführen, Unerklärliches aufklären und Widersprüchliches ausgleichen möchten.
Hotel Europa oder der Antichrist ist eines der lautesten, zugleich eines der subtilsten, eines der tiefsinnigsten und eines der seichtesten Stücke der Saison. Es ist heiter und traurig, es packt und es langweilt. Es hält Szenen der Lächerlichkeit und solche bereit, die unauslöschlich in Erinnerung bleiben. Und es ist vor allem eines: Ein Menetekel im Zeitgeschehen, das man nur zu gerne nicht wahrnehmen möchte. Gerade das undefinierbare Unbehagen, das trotz all des Klamauks bis zum Schluss beständig zunimmt, kann nicht abgeschüttelt, nicht ohne Weiteres im Theatersaal zurückgelassen werden. Das Stück, in dem der Regisseur einen Spagat zwischen einem herkömmlichen Drama und einer postdramatischen Inszenierung wagt, ist letztlich ein zeitgemäßes Theaterhybrid. Ein Spiegel des unvollkommenen Alltäglichen vor der Blaupause einer literarischen Vorlage. Dies auszuhalten ist genauso schwer wie die Verabschiedung aus einem Paradies, das es letztlich nie gegeben hat. Wer weder Trauer noch Angst, Liebe und Leidenschaft, wer weder Unsinn, Klamauk und Lachen noch Literatur, Kunst und Theater in seinem Leben missen möchte, wird an diesem Abend belohnt nach Hause gehen.
Weitere Infos auf der Seite des Burgtheaters.