Homer: Die Odyssee

Odysseus hätte seine Freude damit gehabt: Segelboot an der Halbinsel von Giens, Südfrankreich. Ölkreide.

Odysseus hätte seine Freude damit gehabt: Segelboot an der Halbinsel von Giens, Südfrankreich. Ölkreide.

Zur Matura schenkte mir mein Onkel auf meinen eigenen Wunsch hin die zweisprachige Tusculum-Ausgabe der „Odyssee“, das ist nun bereits satte 36 Jahre her. Seit damals schob ich die Lektüre dieses grundlegenden Werks der Weltliteratur vor mir her. Warum ich mich nicht daranwagte, ist mir inzwischen selber schleierhaft. Man hat eben solche literarischen Achttausender vor sich, die man nicht zu besteigen wagt, obwohl sie einen reizen.

Heuer gab ich mir endlich einen Ruck. Der äußere Anlass war die Beschäftigung mit der antiken Mythologie im Deutschunterricht einer Klasse voller sehr interessierter Elf- bis Zwölfjähriger. Wir lasen „Griechische Sagen“, nacherzählt von Friedl Hofbauer, eine Ausgabe, in der auch die Odyssee aufgenommen ist. Außerdem sahen wir uns Teile des Spielfilms „Die Abenteuer des Odysseus“ an (wohldosiert, die Brutalitäten überspringend…).

Da wollte ich doch wissen, wie das Original beschaffen ist, und stürzte mich hinein. Da sich inzwischen bei mir zwei weitere Odyssee-Ausgaben angesammelt hatten, las ich abschnittsweise aus jeder: der Übersetzung von Johann Heinrich Voss, der Übersetzung von Anton Weiher (Sammlung Tusculum) und der Prosa-Übertragung von Wolfgang Schadewaldt.

Die Lektüre brachte mir einige Aha-Erlebnisse:

 

Homerische Epitheta

Die Odyssee ist gar kein literarischer Achttausender, sondern nur ein Dreitausender. Auch nicht ohne, aber doch bewältigbar. Man muss sich nur an die homerische Diktion gewöhnen, mit den typischen stehenden Phrasen, wie sie aus der mündlichen Sängertradition stammen, und den berühmten “homerischen Epitheta”. Es heißt bei Homer eben „die blauäugige Athene“ (und zwar nicht nur ein-, sondern hundertmal), der „listenreiche Odysseus“ (auch das -zigmal, obwohl wir es uns spätestens beim dritten Mal gemerkt haben), das muss man wohl so sehen wie bei uns die akademischen Titel: Da wird man auch ständig als „Frau/Herr Doktor“, „Frau/Herr Magister“ oder „Frau/Herr Professor“ angeredet, und niemandem kommt das komisch vor (zumindest in Österreich).

 

Ungewöhnlicher Fahrstil

Homer (ich sage Homer, obwohl er gar nicht der Dichter der „Odyssee“ war, dazu aber später) hat einen für uns ungewohnten erzählerischen Fahrstil: An manchen Sehenswürdigkeiten düst er zügig vorbei, während er in vergleichsweise langweiligen Gebieten genüsslich herumgondelt. Man ist als Leser hier aber der Beifahrer und muss dieses eigenwillige Erzähltempo akzeptieren – oder aussteigen. Dann erlebt man aber den Rest der Fahrt nicht mit.

Es dauert zum Beispiel elendslange, bis Odysseus überhaupt erstmals auf den Plan tritt, nämlich im fünften von vierundzwanzig Gesängen (die übrigens nicht alle gleich lang sind), und das „Ende“ der Story in Ithaka mit dem brutalen Freiermord und allem Drumherum füllt die gesamte zweite Hälfte.

 

Ein Schelmenroman?

Die berühmten, sagenhaften „Abenteuer“ des Odysseus, also die Geschichten mit Polyphem, Aiolos, dem Besuch in der Unterwelt, Skylla und Charybdis, etc., sind für uns die Hauptsache, nicht aber für Homer. Wir haben hier eine verschobene Wahrnehmung durch Nacherzählungen und vor allem Verfilmungen, die diesen aufregenden Geschichten viel mehr Raum geben als das Original. Im erwähnten Odysseus-Fim etwa brauchen die Abenteuer und die Telemach-Geschichte (die in aller Knappheit dazwischen eingestreut ist) 142 Minuten, während die Schlussphase in Ithaka nur 30 Minuten dauert, das ist also ein Sechstel für das, was bei Homer die Hälfte umfasst.

Bei Homer “erleben” wir als Leser ja gar nicht mit, was sich bei diesen Abenteuern abspielt, sondern wir hören, wie Odysseus diese Geschichten den Phäaken erzählt. Das ist zwar, denke ich, allgemein bekannt. Was aber bedeutet es? Im Extremfall, dass Odysseus den Phäaken Geschichten auftischt, die überhaupt nicht stimmen. Immerhin wäre das nicht besonders ungewöhnlich, da er sich ja für die meisten Gesprächspartner zumindest zeitweise Lügenmärchen über sich und seine Herkunft ausdenkt. Noch Penelope quält er mit solchen Marotten.

Was direkt erzählt wird, sind vor allem die Aufenthalte bei Kirke und Kalypso, also Frauengeschichten. Hm. Wirft auch nicht gerade ein sehr positives Licht auf den treuen Ehemann…

Vielleicht also muss man die Odyssee nicht so sehr als hehre Heldensage, sondern als einen Schelmenroman lesen?

 

Der Freiermord

Hinzu kommt die doch juristisch gesehen äußerst bedenkliche Freiermord-Angelegenheit. Dagegen ist der Wilde Westen ein Kindergarten. Da sind also ein Dutzend Jünglinge, die die Situation einer „Königin“ (in der Größenordnung entspricht sie etwa einer heutigen Bürgermeistersgattin einer Mittelstadt) ausnützen. Da Penelope sich, obwohl alles dafür spricht, dass Odysseus tot ist, nicht entscheiden kann, neu zu heiraten, warten sie eben ab, wie sich die Lage entwickeln wird, und lassen es sich währenddessen auf Kosten Penelopes gut gehen. Das funktioniert vor allem deshalb, weil niemand da ist, der sie vor die Tür setzt. Telemach ist mit seinen 16, 17 Jahren offenbar noch ein erstaunlich kindliches Gemüt, das es lustig findet, mit den Freiern zu schmausen (wollen wir die säkulare Akzeleration dafür verantwortlich machen, dass ihm erst mit 20 die ersten Barthaare sprießen).

Erst als Telemach 19 ist, hat es die Göttin Athene satt, dass er einfach nicht zum Manne reifen will, und sie nimmt sich des tumben Toren an. Homer nimmt es mit plausiblen Altersverhältnissen nicht so genau. Die legendären zehn Jahre, die Odysseus für die Heimkehr braucht, sind somit eher eine symbolische Zahl. Jedenfalls mutiert Telemach unter Athenes Einfluss flugs zum ernstzunehmenden Königssohn, weshalb die Freier auch anfangen, Mordpläne zu schmieden. Aber wer kann schon gegen einen Protegé einer Göttin an?

Die Freier haben das Gastrecht überstrapaziert und einen Mord geplant, das sind aber auch ihre einzigen Verfehlungen. Sie haben Penelope hofiert, ihr teure Geschenke überreicht – und dennoch bringt Odysseus sie alle gnadenlos um, gleich samt jenen Dienerinnen, die ihrem Charme im Lauf der Zeit erlegen sind.

Bezeichnender Weise wird aber der lokale Barde Phemios verschont, da er ja nur gezwungenermaßen den Freiern aufgespielt hat (XXII, 330ff). Das wirft ein treffendes Licht auf die Stellung des Sängers in der Gesellschaft: Er richtet sich nach dem Wind. (Dafür fielen mir weitere Beispiele aus der Geschichte ein.) Aber Odysseus, der doch gerade überhaupt nicht zimperlich ist, akzeptiert das. Ist eben so, bei Künstlern, die müssen den gerade aktuellen Machtabern aufspielen.

Interessant ist, dass sogar Homer den Mord des Odysseus an den Freiern für übertrieben hielt. Das geht daraus hervor, dass ganz zum Schluss die Götter ein Machtwort sprechen und ein großes Vergessen bewirken. Anderfalls wäre Odysseus das Ziel von Racheplänen der Verwandten der Freier.

Zeus sagt zu Athene:

„Da nun endlich der hehre Odysseus die Freier gestraft hat,

Schwört euch Eide der Treue und er sei König für immer!

Wir hingegen verfügen: Der Mord an den Söhnen und Brüdern

Sei nun vergessen! Sie sollen sich lieben einander wie früher;

Wohlstand aber und Fülle des Friedens herrsche bei ihnen!“ (XXIV, 481-485)

Schwamm drüber, reden wir nicht mehr davon. Auch diese Methode der Vergangenheitsbewältigung kennt man aus späteren Epochen der Geschichte. Bei den Ithakern und den anderen Familien der Freier, die sich Odysseus durch seine Morde zu Feinden gemacht hat, funktioniert dieses „Vergessen“ dank göttlichen Einflusses so gut, dass der Frieden im Lande tatsächlich dauerhaft wiederhergestellt ist und Ithaka unter seinem König Odysseus wieder zu einer Blüte kommen kann. Diese Wendung am Schluss kommt übrigens den Homer-Forschern verdächtig vor, sodass man schon postuliert hat, der 24. Gesang sei eine spätere Zutat.

 

Die Übersetzungen

Welche der drei Übersetzungen lag mir am meisten? Ich geben Anton Weiher die Palme, dessen Vers-Übertragung sich erstaunlich flüssig lesen ließ. Für Voss spräche, dass seine Übersetzung von 1781 inzwischen selbst ein fast homerisches Alter hat und man daher in der gleichen Lage ist wie die Griechen der nachhomerischen Jahrhunderte, für die dieses Epos auch keine Nachtkästchenlektüre war. Hätte ich also mehr Zeit investieren können, hätte ich vielleicht bei Voss bleiben sollen. Wolfgang Schadewaldt legte in den Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Prosaübersetzung vor, die zwar im Sprachduktus zum Teil den Hexametern angenähert ist, sich ihnen aber nicht unterwirft wie die Versübertragungen. Das solle der Verständlichkeit zugute kommen. Mag sein. Bei mir hat das aber nicht gewirkt, denn mit Schadewaldt tat ich mir am schwersten. Da fehlt einfach der “Drive”, den die Hexameter entwickeln.

 

Homer gar nicht der Dichter

Alle drei meiner Ausgaben haben lesenswerte Nachworte. Aus ihnen geht hervor, dass der Verfasser der “Odyssee” (sofern es ein einziger war) nicht jener der “Ilias” war. Dafür seien die beiden Epen viel zu unterschiedlich gestaltet. Falls also ein gewisser Homer die “Ilias” geschrieben (oder gesungen?) haben sollte, dann war der „Odyssee“-Verfasser nicht Homer. Darin sind sich alle einig. Wie die Lage der Verfasserschaft im Detail aussieht, wird unterschiedlich gesehen.

 

Benutzte Ausgaben:

Homer: Odyssee. Griechisch und deutsch. Übertragung von Anton Weiher. Mit Urtext, Anhang und Registern. Einführung von A. Heubeck. Ernst Heimeran Verlag, 4. Auflage, 1974. Sammlung Tusculum. 769 Seiten. (Odyssee auf Deutsch: 330 Seiten.)

Homer: Ilias, Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Vollständige Ausgabe. Nach dem Text der Erstausgaben (Ilias Hamburg 1793, Odyssee Hamburg 1781), mit einem Nachwort von Wolf Hartmut Friedrich. Winkler Verlag, München, 1957. Winkler Weltliteratur Dünndruckausgabe. 835 Seiten. (Odyssee: S. 440 − 760 = 320 Seiten.)

Homer: Die Odyssee. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schadewaldt. Lizenzausgabe des Artemis Verlags, Zürich und München, für die Europäische Buchgemeinschaft … Originalausgabe: Artemis Verlag, 1966. Meisterwerke der Antike. 445 Seiten.

 

Friedl Hofbauer: Griechische Sagen. G & G Verlag, Wien. 144 Seiten.

Die Abenteuer des Odysseus. In der Hauptrolle: Armand Assante. TV-Verfilmung von 1997. DVD, 172 Minuten.



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