Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Märchen es gibt, die ich nicht kenne - obwohl ich mit zahlreichen internationalen Märchen aufgewachsen bin. Anlässlich meiner Recherchen zu „White Cat" von Holly Black stieß ich abermals auf ein Kunstmärchen, von dem ich noch nie gehört habe. „Die Weiße Katze" wurde von der Französin Marie-Catherine d'Aulnoy geschrieben und 1698 erstveröffentlicht. Es handelt von einem jungen Prinzen, der beim Ringen um die Thronfolge die Unterstützung einer intelligenten, sprechenden weißen Katze erhält, die sich am Ende als verfluchte, wunderschöne Prinzessin entpuppt. Für „White Cat" adaptierte Holly Black das alte Märchen und kombinierte es mit einem modernen gesellschaftlichen Phänomen: Organisierte Kriminalität.
Jahrelang perfektionierte Cassel Sharpe seine Fassade. Gute Noten, oberflächliche Bekanntschaften, niemals auffallen. Alles, damit niemand herausfindet, wer - und was - er ist. Cassel entstammt einer Familie von Fluchmagier_innen: Mit einer einzigen Berührung ihrer Hände können sie das Schicksal eines Menschen manipulieren. Wie viele andere trieb sie das offizielle Verbot der Magie in den Untergrund. Heute sind sie Teil eines Netzwerkes von sechs Familien, die die kriminelle Unterwelt regieren. Obwohl Cassel über keinerlei Kräfte verfügt, wurde ihm von Kindesbeinen an eingebläut, dass er nur der Familie trauen kann. Nur die Familie wird das furchtbare Geheimnis hüten, das auf seinem Gewissen lastet. Doch dann beginnt er, von der weißen Katze zu träumen. Er schlafwandelt und erregt Aufsehen. Es scheint, als hätte ihn sein Geheimnis eingeholt - und nicht nur ihn. Seine beiden älteren Brüder Philip und Barron verhalten sich merkwürdig. Cassel stolpert über Ungereimtheiten, die seine Schuld in Frage stellen. Langsam beschleicht ihn ein beunruhigender Verdacht. Hat ihn seine Familie belogen? Sind vielleicht gerade sie diejenigen, denen er nicht trauen sollte?
Ich habe während der Lektüre von „White Cat" schnell gemerkt, dass mir das Buch gut gefällt. Wie das hin und wieder bei mir ist, konnte ich allerdings nicht sofort definieren, warum es mir gefällt. Auf den ersten Blick erzählt Holly Black eine Geschichte, die gar nicht ungewöhnlich für den Jugendbereich der Urban Fantasy ist: Der Protagonist Cassel entdeckt durch eine Verkettung verdächtiger Umstände, dass sein Leben nicht das ist, wofür er es hielt. Seine Erkenntnisse belasten sein ohnehin gespanntes Verhältnis zu seiner dysfunktionalen Familie und er muss entscheiden, ob Blut wirklich dicker als Wasser ist. So weit, so durchschnittlich. Manche Entwicklungen empfand ich als vorhersehbar, andere als überraschend, aber mit der Handlung allein gewann Black bei mir keinen Blumentopf. Dennoch weckte „White Cat" in mir eine eigenartige, diffuse Faszination, der ich auf den Grund gehen musste. Mental untersuchte ich die Dynamiken der Figuren, nahm Cassels Charakterkonstruktion auseinander und analysierte, welche Strategien Black einsetzte, um ihren Leser_innen Sympathie für ihn zu entlocken. All diese Punkte erwiesen sich als interessant, meinen Enthusiasmus für das Buch erklärten sie jedoch nicht. Und dann begann ich, über das Setting nachzudenken - und über das Magiesystem der „Curse Workers"-Trilogie. Cassel lebt in einer modernen alternativen Realität, in der die Existenz von Magie öffentlich bekannt ist. Eine Person unter tausend wird als Fluchmagier_in geboren. Fluchmagier_innen haben sehr unterschiedliche Fähigkeiten: Mit der Berührung ihrer Hände können einige Träume, Erinnerungen oder Emotionen manipulieren, andere beeinflussen körperliche Empfindungen und wieder andere können mit ihrem Talent töten. All diese Kräfte gelten offiziell als so gefährlich, dass das Wirken von Flüchen vor Jahrzehnten verboten wurde, was dazu führte, dass sich die Fluchmagier_innen in mafiösen Strukturen organisierten. Diese ausgefallene Verbindung von Kriminalität und Magie ist die Ursache für meine Faszination mit „White Cat". Normalerweise ist Magie in der Fantasy positiv konnotiert - wenn nicht bereits in sich, dann indirekt durch die rechtschaffenen Motive der Held_innen und den Kontrast zu Antagonist_innen. Das ist in diesem Buch nicht der Fall. Holly Black wagt, Magie kompromisslos zu kriminalisieren. Sie präsentiert keinerlei positive Einsatzmöglichkeiten. Flüche sind immer verbrecherisch, übergriffig und für die Opfer vergleichbar mit einer Vergewaltigung oder einem Angriff. Die Idee, dem Wirken von Magie kriminelle Energie und den Wirker_innen kriminelle Motivationen zugrunde zu legen, dazu die Involvierung ausgeklügelter Trickbetrügereien - ich fand das alles sehr originell, abwechslungsreich und wirklichkeitsnah. Es ist erstaunlich, dass diese Assoziation selten so konsequent thematisiert wird, denn mir erscheint sie verblüffend naheliegend.
„White Cat" spielt mit einer spannenden Umkehr der üblichen Vorzeichen der Fantasy: Was wäre, wenn Magie keine Wunder, sondern Leid produzieren würde? Was wäre, wenn ausnahmslos alle Magier_innen keine Reinkarnationen von Albus Dumbledore, sondern Kriminelle wären? Und was könnten diese Umstände für einen jungen Mann bedeuten, der versucht, zwischen Richtig und Falsch zu navigieren? Ich bin wirklich beeindruckt, wie furchtlos Holly Black ein Genre-Axiom auf den Kopf stellte und dadurch eine Welt sowie Geschichte schuf, die einen ganz eigenen Charme versprühen und jede Menge aufregende Gedankengänge zulassen. Ich mochte „White Cat" sehr und hätte mich beinahe zu einer Bewertung mit vier Sternen hinreißen lassen, wäre das Buch noch ein Müh unvorhersehbarer. Ich freue mich auf die Fortsetzung „Red Glove".
Euch empfehle ich„White Cat", wenn ihr Lust habt, das kriminelle Potential von Magie zu erkunden und nebenbei etwas über Betrugsmaschen zu lernen. Man weiß schließlich nie, wofür man dieses Wissen mal gebrauchen kann.