Das Exil-Thema lässt mich einfach nicht los. Zu sehr bewegen mich die Fragen, welche sich gegenwärtig unzählige Menschen in Syrien, Venezuela oder der Türkei stellen müssen: Gehen oder bleiben? Einen neuen Lebensort finden oder in der geliebten Heimat weiterleben? Nicht immer ist „Gehen“ die bessere Alternative. Liest man einige der Miniaturen von aus Der Spaziergänger von Aleppo, so versteht man, dass ein geliebtes Zuhause mit all seinen Büchern, Schallplatten und Freunden zu verlassen, nicht ganz einfach ist. Für Niroz Malek ist es unmöglich.
Viele deutschsprachige Autoren und Autorinnen in den Dreißiger Jahren konnten sich diese Frage gar nicht erst stellen. Denn zu bleiben, hätte für Intellektuelle wie Stefan Zweig, Fritz Landshoff, Klaus Mann, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger oder Joseph Roth schlimmste Repressalien oder sogar den Tod im Vernichtungslager bedeutet. Für sie gab es deshalb nur eine Frage: Wohin – nach Westeuropa oder besser gleich nach Amerika? Und vor allen Dingen: Was dann?
Viele von ihnen gehen in die Niederlande und finden im Amsterdamer Verlag von Emanuel Querido ein neues geistiges Zuhause.
Die 1973 in Berlin geborene Autorin Bettina Baltschev ging auf Spurensuche in dieses Amsterdam der 30er und 40er Jahre. Ihrem Buch liegen intensive Recherchen und unzählige ausgedehnte Spaziergänge durch die heutige Stadt zugrunde. Sie wollte der Frage nachgehen, wie sich Amsterdam für die deutschen AutorInnen anfühlte. Eher wie eine Art Paradies, weil sie vorerst dem Nationalsozialismus entkommen waren oder wie ein Ort der Verbannung ohne Zukunft. Schließlich kann auch der sicherste Ort zur Hölle werden – einer Hölle aus Ungewissheit, Geldnot und Selbstmordgedanken. Dabei beruft sie sich nicht ausschließlich auf Fakten. Und erinnert mich damit an das Buch Ostende von Volker Weidermann. Manche ihrer Behauptungen sind vage Vermutungen. Was reden Fritz Landshoff und Klaus Mann auf dem Foto am Strand? Lachen sie für die Kamera oder sind beide ganz und gar unbeschwert? Welche düsteren Gedanken und Sorgen mögen schon in der Nacht auf sie warten?
Man kann Hölle und Paradies als literaturwissenschaftliches oder geschichtliches Buch lesen, man kann es aber auch als literarischen Bericht über eine der schönsten Städte der Welt lesen. So schlendert Bettina Baltschev beispielsweise durch die Brouwersgracht, wo sie das Antiquariat Die Schmiede entdeckt. Hier wird ausschließlich deutsche und ganz besonders Exilliteratur verkauft. Nach dem Stöbern geht es weiter ins Café Zwart auf einen Koffie verkeerd. Dabei liest Bettina Baltschev Irmgard Keuns Kind aller Länder.
Hölle und Paradies macht sehr deutlich, mit welchem Mut und mit welcher Euphorie Verleger und Autoren in jenen Zeiten gearbeitet haben, und wie wichtig Emanuel Querido und Fritz Langhoff für die deutsche Exilliteratur gewesen sind. Wie wäre es all jenen Autoren ohne den Querido Verlag ergangen? Bücher zu schreiben heißt schließlich auch, einen Absatzmarkt zu finden. Die Geschichten müssen lektoriert, gedruckt und vertrieben werden. Sie müssen zum Leser gelangen. Sie müssen dem Autoren ein Einkommen, Geld zum Überleben sichern.
Viele Romane entstanden direkt im Exil und erzählen vom schweren Schicksal ihrer Autoren. Ob das Der heilige Trinker von Joseph Roth oder Der Vulkan von Klaus Mann ist. Bei aller Tragik, die das Thema dieses Buches in sich trägt, ist es einfach auch wundervoll, immerzu Klaus Mann, Joseph Roth oder Irmgard Keun zu begegnen! Ihr kleines Mädchen Kully aus dem Roman Kind aller Länder wird mehrfach zitiert. Wundervolle Schwarzweiß-Fotografieren aus dem vergangenen und dem heutigen Amsterdam ergänzen den Text.
Der Auslöser, dieses Buch zu lesen war aber eigentlich der Film Vor der Morgenröte. Er erzählt von Stefan Zweig und seiner Frau Lotte, die gemeinsam viele Jahre in Brasilien gelebt und gearbeitet haben, bis sie sich im Februar 1942 für den gemeinsamen Freitod entschieden. Stefan Zweig fehlte einfach die Kraft, weiter zu leben. Nach seinem 60. Geburtstag hatte ihn alle Hoffnung verlassen. Der Film zeigt sehr deutlich, was Exil bedeutet, denn es ist ja nicht nur die Sprache, die zu lernen es heißt, sondern möglicherweise auch, unter neuen klimatischen Bedingungen und in einer fremden Kultur zu leben und zu arbeiten. Und immer gegenwärtig der große dunkle Schatten der Ungewissheit. Das Exil überanstrengte viele Herzen. Ein Satz von Klaus Mann, welchen Bettina Baltschev dem Buch voranstellt. Ich denke, dieser eine Satz sagt so viel. Auch in Irmgard Keuns Kind aller Länder ist Selbstmord ein Thema. Das Mädchen Kully erzählt, dass viele Emigranten sterben wollen und auch ihr Vater würde sagen, dies sei das Beste und Wahre … Ein frommer Wunsch, den vermutlich viele Exilschriftsteller hin und wieder hegen, nur ist der eine widerstandsfähiger als der andere … Denn so gut man über den Tag kommt in einer freundlichen Stadt wie Amsterdam: Wenn es dunkel wird, kommen die Dämonen, das Heimweh, die Angst (S. 81).
Bettina Baltschev. Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur. Berenberg Verlag. Berlin 2016. 167 Seiten. 22,- €