Wir waren kaum ausgestiegen, da hielt uns eine Frau mit rostbraunem Haar und Leberfleck auf der Wange einen fotokopierten Flyer hin. Er bewarb ihr Gästehaus mit ›familiärer Atmosphäre‹, ›Frühstück inklusive‹ und ›wifi‹. Dessen ungeachtet war uns der Preis zu hoch. Wir verhandelten und bekamen Rabatt. Da wir ihrer Wegbeschreibung nicht folgen konnten, begleitete sie uns. Humpelnd, auf einer Krücke. Ich war indigniert. Und später sogar fühlte ich mich schuldig und zahlte deswegen den Normalpreis, denn die Dame hatte nicht viel und überdies zeigte sie sich immer bemüht und hilfsbereit. Selbst die köstliche Pflaumen-Konfitüre zum Frühstück kochte sie selbst.
Beim Eintreten in das kleine Haus stand man augenblicklich im Wohnzimmer, dessen Mittelpunkt ein ovaler Esstisch bildete. Die zerknitterte Tischdecke und die fleckigen Untersetzer konnten die schon seit langem nicht mehr gewischte Glasplatte nicht verheimlichen. Vor dem Fenster stand ein Kühlschrank. Und auf dem Kühlschrank stapelten sich Lebensmittel, die nicht gekühlt werden mussten. Auf der Fensterbank, verstaubte Blumen, von schweren Gardinen beengt. Manche waren aus Plastik. Obwohl der Raum groß war, wirkte er eng: Er war vollgestopft: Mit Spielzeug für Kleinkinder und Spielzeug für ältere Kinder, dreckiger Wäsche und sauberer Wäsche, mit Zeitungen, Büchern und Broschüren, mit Nähzeug, Putzzeug und Werkzeug, leeren Flaschen, verbeulten Kartuschen und Milchtüten, Schreibutensilien, ungespültem Geschirr, Stoffpuppen, überquellenden Kartonagen. Die Wände waren mit Plakaten, Kalendern und einer Wanduhr behangen. Und irgendwie passte der riesige Plasma-Fernseher, der links vom Esstisch hing, nicht so recht in diese Szenerie. Und es zog. Es war kühl. Die Zimmer im Obergeschoss hätten als Stundenzimmer durchgehen können. Wir bekamen eins mit dem Fenster zur Straße. Abends sollten die Schatten eines Baumes auf der Tapete mich in Schlaf wiegen.
Wir packten unsere Sachen für die morgige Wanderung und gingen zum Supermarkt. Einem dieser fensterlosen, überdimensionierten, gesichtslosen Supermärkte, die alles verkaufen. Nur nicht Ehrlichkeit. Aber wenn man auf sein Geld achten muss, stellen sich solche Fragen nicht. In einem kleinen Supermarkt in einer Seitenstraße wurde uns doch noch warm: Bei offenem Kaminfeuer und argentinische Folklore, die aus den Boxen dröhnte und zu der die Kassiererin – die noch handschriftlich Buch führte – ihre Hüften bewegte, schlenderten wir zwischen Regalen, deren Produkten keine bunt-leuchtenden verheißungsvollen Aufkleber brauchten, um zum Kauf zu überreden.
Im Hostel kochten wir, in einer Küche, die im Grunde dem Wohnzimmer glich: Über allem Geschirr und Besteck lag ein Fettfilm. In ranziger Butter stockten Stubenfliegen. Die Schwämme rochen. Die Dunstabzugshaube hing schief, dem Gasofen fehlten Knöpfe. Streichhölzer lagen herum. Der Müll hing in tropfenden Plastiktüten an der Türklinge, oder zusammengeschoben auf der Anrichte. Und überall Krümmel, vertrocknete Wurstschalen, Obstkerne, verstreute Gewürze. Durchs Fenster pfiff der Wind.
Und wenn man dann das Bild betrachtete, das im Flur an der Treppe hing, welches vom Licht längst ausgeblichen war, obwohl in diesen Bereich nur wenig Licht drang, so konnte man melancholisch werden: Auf der Photographie saß eine über beide Ohren strahlende Braut, ganz in weiß und auf dem Schoß hielt sie einen Strauß Blumen. Und rechts von ihr stand ein hochgewachsener blasser Mann, mit langer Nase und nach hinten gekämmtem schwarzen Haar. Seine Hand lag auf ihrer Schulter, und machte sie so noch schmächtiger. Sein Anzug saß schlecht und er wirkte traurig. Seine Physiognomie hatte etwas Brutales. Vielleicht war er auch einfach nur verkrampft. Oder betrunken. Und wenn dann Melinda einmal mir zulächelte, und ganz ungeniert ihre Zahnlücke zeigte, so erkannte man die selben Augen, die auch auf der Photographie zu erkennen waren. Was beide damals dachten? Und was beide heute wohl denken, wenn sie an der Bushaltestelle auf Touristen wartet, und er – von dem man nicht weiß, ob er ihr Ehemann ist, denn in dieser Beziehung fehlt etwas, dass junge Menschen gemeinhin mit Beziehung assoziieren – alleine am späten Abend noch, DVDs aus einem Schuhkarton kramt und dann vor dem großen Plasma-Fernseher zu argentinischen Liebesliedern, stehend und lächelnd, schunkelt? Und was sie über den jungen Mann dachten, der eines abends stockbesoffen zurückkam, auf dem Boden krabbelte und brabbelte und immerzu lachte, dass er auch mich aufweckte, dann die Treppe hinunterfiel und zum großen Finale die Toilette vollkotzte?