Hoch- und Subkultur und eine Reverenz an Pierre Boulez

Am 5. November 2015 startete das Festival Wien Modern mit dem Konzert „Pli selon pli“ von Pierre Boulez im großen Saal des Konzerthauses. Hauptakteure waren das RSO unter Cornelius Meister und die Ausnahme-Sopranstin Marisol Montalvo.

Zuvor jedoch hielt die Musikerin, Musikproduzentin und Techno-DJane Susanne Kirchmayr alias Electric Indigo eine Eröffnungsrede respektive Eröffnungsvorlesung.
Sie nahm das diesjährige Motto „Pop Song Voice“  zum Anlass, über den Stand der zeitgenössischen Musikproduktion nachzudenken. Dabei skizzierte sie ein Spannungsfeld zwischen Hoch- und Subkultur, bei dem sie dem Kommerz-Pop zwar einen ökonomischen aber keinen künstlerischen Impetus zuschrieb.
Ihr druckreifes Referat war wohl kalkuliert ausgerichtet für die Ablage in den Annalen aber weniger geeignet, das Publikum mitzureißen. Gespickt mit interessanten Zitaten von Adorno bis Foucault gab sie dabei einen Proof ihres musiktheoretischen Verständnisses. Mehr „Fleisch“ im Sinne von bildhaft ausfabuliertem Anschauungsunterricht in Sachen elektronischer Musik hätte vielleicht auch jene im Publikum neugierig gemacht, die sich bislang kein Stück dieses spannenden Genres angehört haben.

Mit „Pli selon pli“ (Portrait de Mallarmé) für Sopran und Orchester von Pierre Boulez stand anschließend ein Klassiker der Moderne auf dem Programm. Einerseits als Reverenz zum 90. Geburtstag des Komponisten, andererseits war dies ein Wunsch des RSO, dem der künstlerische Leiter des Festivals, Matthias Lošek, gerne nachkam. Das Orchester möge „ewig leben“ wünschte er dem herausragenden Klangkörper noch, der sich um die Verbreitung zeitgenössischer Musik große Verdienste erworben hat. Ein kleiner Seitenhieb auf die immer wieder aufflammenden Einsparungsgerüchte, die ein Aus des Orchesters bedeuten würden.

Die Ausnahme-Sopranstin Marisol Montalvo, die erst vor Kurzem im Theater an der Wien in der Rolle der Lulu von Olga Neuwirth brillierte, übernahm dabei den solistischen Part. Aufgebaut auf Gedichte des Symbolisten Mallarmé lässt das 5-sätzige Werk jede Menge Freiraum zur Selbstinterpretation. Ganz im Sinne eines offenen Kunstwerks schafft es Klangräume und damit verbundene Assoziationen, die ganz individuell gedeutet werden können. Mit der Wahl des Werkes setzt sich ein Trend in der Kunstszene fort, der zurzeit verstärkt auf jene Strömungen zurückblickt, die das Surreale und das Absurde in den Vordergrund stellen. Offenbar korreliert dies mit unserem aktuellen gesellschaftlichen Zustand, der durch eine undurchschaubare Komplexität gekennzeichnet ist. Zu Recht betitelte Kirchmayr unter diesem Gesichtspunkt Wien Modern als Wien Postmodern.

Mit einem wilden, unerwarteten Tutti-Einstiegsakkord eröffnet das Stück. Spannungsgeladen und flirrend präsentiert sich der erste Satz in dem Boulez das bestimmende Instrumentarium vorstellt. Ein großer Schlagwerkapparat mit Glocken, Gongs und Vibraphonen, eine Harfe, eine Gitarre und eine Mandoline kommen neben der herkömmlichen Orchesterbelegung zum Einsatz. Marisol Montalvos wunderbarer, geschmeidiger Sopran, den sie mit einer hohen Verständlichkeit ausgestattet hat und ihre bühnenwirksame darstellerische Ausdruckskraft zeigen sich schon in ihrem ersten Einsatz. Das Orchester gibt ihr dazu genügend Raum, bleibt dabei unter Cornelius Meister aber stets gut ausdifferenziert hörbar. Die orchestrale Ausarbeitung nach dem ersten gesungenen Einschub gestattet, die Worte Mallarmés wirken zu lassen.

Mit expressiven Gesten begleitet sie in den darauffolgenden Sätzen ihren Gesang. Auch in den großen Sprüngen bleibt ihre Stimme beherrscht, sauber, rein und lyrisch und kippt dabei kein einziges Mal in einen schreienden Diskant. Damit bringt sie jene unabdingbare stimmliche Voraussetzung mit, die „Pli selon pli“ benötigt, um auch tatsächlich genossen werden zu können. In den dunkel gefärbten orchestralen Klangwelten bietet ihr Sopran einen Anker, der einen wie ein treuer Freund durch unbestimmte und gefährliche Traumwelten begleitet. So verständlich noch der erste Satz ausformuliert ist, so künstlich generiert sich schließlich in der Improvisation III das Textmaterial. Koloraturartige Verzierungen innerhalb der Worte machen diese gänzlich unverständlich und legen einen zusätzlichen Schleier auf die ohnehin schwer dechiffrierbaren Sätze des Poeten. Sich auf das eigene Gefühl einlassen ist hier angesagt wie selten in der Musikgeschichte zuvor. Gerade im vierten Satz ermöglicht der Komponist dem Orchester jede Menge an einzelnen Stimmführungen, die wuderbar von den Flöten und Bässen zumindest auf kurze Strecken beinahe generalbassmäßig unterstützt werden. Das unvorhersehbare Aufblitzen der einzelnen Instrumente über einem beständigen Klangteppich bewirkt eine Art Schwebezustand, der ein Gefühl von bedrängter Ausweglosigkeit vermittelt. Kleine Intermezzi von Geigen und der Mandoline aber auch perlende Vibraphonkaskaden beleben wie aufblitzende Edelsteine die ansonsten bedrängte Szenerie.

Der mit „Grab“ überschriebene letzte Satz bietet das, was man an klanglichen Vorstellungen mit dieser Thematik landläufig verbindet. Leise Glockenschläge und Pauken, Geigen- und Posaunen-Stelen, Vibraphonläufe und Zuckungen in den Streichern und Bläsern. Das unvermeidliche Zusammenballen aller Kräfte und die ständig ansteigende, nervöse Grundstimmung machen klar, dass das Unausweichliche des menschlichen Lebens, der Tod, zur Kenntnis genommen werden muss. Die Posaunen, die dunkle, angsteinflößende Gefühle evozieren, leiten einen musikalischen Strom ein, der unaufhaltsam voran drängt. Ohne die Möglichkeit, sich festzuhalten, erfolgt ein klangliches Getriebenwerden, das durch zupackende Strudel höchst gefährlich erscheint. Zuerst 4, dann 5 Töne einer kleinen Vibraphon-Melodie werden gegen Schluss des Satzes von den Bläsern beantwortet. Schon meint man etwas leichter atmen zu können, da setzt die Stimme im hohen Register unvermittelt ein. Unterstützt vom Horn ist es ein einziger Satz, der noch gesungen werden muss und der mit dem Wort „la mort“ endet. Mit demselben Tutti-Akkord mit dem der erste Satz begann, endet das Stück.

Cornelius Meister bewies großes Feingefühl in seinem Dirigat.  Die Balance zwischen Orchester und Solistin konnte ausgewogener nicht gestaltet werden und die Durchsichtigkeit und Brillanz der Komposition wurde von allen Beteiligten wunderbar herausgearbeitet. Ein gelungener Beginn des Festivals, der auch gebührend vom Publikum gewürdigt wurde.


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