Historisches: Ich habe wieder einmal ein wenig in meinem Archiv geblättert. Lange ist es her, dass ich diese Kurzgeschichte schrieb. Hier das erste Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. “Das Geschwulst”, geschrieben 1990.
Das Geschwulst
Dieser Schmerz war anders als gewöhnlicher Kopfschmerz, und er spürte dies, ja er wusste das wohl auch, aber wahrhaben wollte er es nicht. Er wollte gewöhnliches Kopfweh haben, (nimm ne Pille und weg sind sie), und wirklich: Anfangs ließ der Schmerz bald nach, verschwand, und er vergaß.
Aber im Laufe der nächsten Zeit litt er immer häufiger an einem schmerzhaften Druck im Kopf. Dennoch machte er sich eigentlich keine Gedanken, zumal der Schmerz weiterhin nach kurzer Zeit nachließ.
Dann wurden die schmerzfreien Perioden kürzer. Zudem dauerte es nun Tage, bis dieser Kopfschmerz ihn verließ. Jetzt gelang es ihm nicht mehr, den Schmerz zu ignorieren. Wenn er mit anderen zusammen war, wenn sie mit ihm redeten, ihn ansahen, ihn berührten, wenn sie sich im gleichen Raum aufhielten, drängte sich der Schmerz zwischen ihn und die anderen Menschen. Er fühlte sich isoliert und unsicher. Wie normal ihm doch alle erschienen. Wie beneidenswert.
Aber als die Tage der Qual vorbei und die Schmerzen abgeklungen waren, machte sich mit der Erleichterung wieder Gedankenlosigkeit breit. Und noch einige Zeit verging.
Eines Morgens dann, als er sich aufwachend auf den Rücken drehte, spürte er es. Zuerst dachte er, etwas liegt zwischen Kopf und Kissen oder dieses ist zerknautscht. Aber nachdem er es aufgeschüttelt hatte, merkte er, dass es daran nicht gelegen haben konnte. Seine Hände griffen zum Kopf, fühlten eine Ausbuchtung. Eine Art Beule am Hinterkopf, groß wie ein Hühnerei, hart, ohne Haare und klebrig feucht.
Er begriff es nicht gleich, genau wie ein plötzlich Zerstückelter den Schmerz nicht spürt und ungläubig seinen Beinstumpf betastet, begriff er es nicht gleich. Aber an seinen Fingern klebte Blut. Nichts realisierend starrte er seine Hände an, die Augen aufgerissen. Blut! Jäh presste er seine Hände auf den Auswuchs. Und schließlich begriff er. Blut!, schrie es in ihm. Ein stechender Schmerz schoss ihm vom Kopf ins Rückenmark. Er schrie und weinte, schrie, schrie… Dann verkroch er sich in seinem Bett und später am Tag ließ der Schmerz endlich nach.
Am nächsten Tag ging er zu einem Arzt. Da saß er in dem Wartezimmer, um den Kopf hatte er ein kurzes blaues Tuch gebunden und unaufhörlich zitterten seine Augen über den Krankenschein in seinen Händen, froh einen Ausweg aus den Blicken der auch Wartenden gefunden zu haben. Diese Blicke und das Wartezimmer verunsicherten ihn zunehmend. Dabei war das Wartezimmer ein freundlicher Raum: die hohen Wände und die Decke weiß gestrichen, der Teppich hell, darauf abgestimmt und in hellem Braun gehalten Stühle und ein Tisch. Stimmige naive Landschaftsmalerei hing an den Wänden und durch das große Fenster ging der Blick hinaus auf einen blumenreichen Garten. Wie in allen Wartezimmern saßen auch hier alle mit dem Rücken zur Wand. Das gab ihm eine gewisse Sicherheit, weil so die Blicke nicht die seltsame Ausbuchtung unter dem Kopftuch sehen konnten. Diese Ausbuchtung, von der er nicht wusste, was sie war, aber von der er vermutete, dass sie sich entgegen seinem ersten Affekt als harmlos herausstellen würde: eine Laune der Natur, durch ärztliches Handwerk leicht wegzuschneiden, einzutrocknen, abzutöten, eine alltägliche Sache, vielleicht so alltäglich, dass ihm die Beulen an anderen schon nicht mehr auffielen: Also nichts Beunruhigendes, Beschämendes, nichts, was sich zu verstecken lohnt. Eigentlich nichts Krankhaftes, nichts Aufregendes, nichts, was seine erste Reaktion rechtfertigen würde, die, auch wenn ein bisschen Blut an den Fingern geklebt hatte, wohl reichlich übertrieben gewesen war. Und doch flüchtete er in dieses nichtssagende, bunte Krankenscheinheft, möglichst unauffällig, scheinbar geduldig, scheinbar gesund allen hinterher lächelnd, die vor ihm aufgerufen wurden – ganz offensichtlich nicht in Eile, eher auf einen Patienten wartend, als selbst Patient, blickte er auf seinen Krankenschein…
Eine erste Begutachtung, abtasten, Röntgen, EKG, abklopfen, in den Hals blicken, abhören, die Ausbuchtung nochmals abtasten, tut das weh? Oder hier? Nein? Lupe, Abstrich, Urin, wann ist dies das erste Mal passiert? Aha, interessant, gestern, sonstige Schmerzen? Nur Kopfschmerzen, aha. Wie lange? Heftig, wo lokalisiert? Keine mehr, aha, vielleicht Erkältung, Stress, muss verfolgt werden. Nun ja, Tests abwarten, ja eine Woche, kann nichts genaues sagen, wäre zu früh. Ansteckend? Nein, aber ich würde vorsichtig sein, bis wir Genaueres wissen. Nein so ins Blaue möchte ich keine Vermutungen äußern. Was sie tun können? Halten sie Stress von sich fern, ich schreibe ihnen Kopfschmerztabletten auf, vielleicht auch nur Wetterfühligkeit, nicht mehr als 3 am Tag. Nein, da kann ich sie wohl beruhigen, warten wir die Tests ab, dann wissen wir Genaueres, lassen sie sich mal keine grauen Haare wachsen, ich gebe ihnen noch einen Stuhltest mit, und das es jetzt schmerzlos ist, werte ich durchaus als gutes Zeichen.
Einen Tag später setzten die Kopfschmerzen wieder ein. Aber er wollte nicht schon wieder zum Arzt, also betäubte er den Schmerz so gut es ging mit Tabletten. Bereits den Tag danach reichte die Dosis von 3 Tabletten am Tag nicht mehr aus, um für einige Zeit schmerzlos zu sein. Er erhöhte die Dosis auf das Doppelte, und bald waren sein Kreislauf und sein Wahrnehmungsvermögen so gestört, dass er kaum noch gefahrlos die Wohnung hätte verlassen können. Sein Fernseher lief jetzt ununterbrochen, lustlos drückte er von Programm zu Programm, das Meiste von dem, was an ihn heranflimmerte, nahm er kaum mehr wahr. Dieses Geblitze, Schreien, die verschwommenen Farben verschlimmerten sogar noch seine Kopfschmerzen, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, den Apparat auszuschalten, denn dann wäre es so still gewesen, und er wäre allein mit sich und dem Geschwulst. Allein mit dem Gedanken, mit dem Geschwulst, dem Gedanken krank zu sein. So schluckte er eine Tablette nach der nächsten und verließ das Bett nur noch, um auf die Toilette zu gehen.
Am sechsten Tag nachdem er beim Arzt gewesen war, klingelte es Abends an der Tür. Wie kam jemand auf die Idee, ihn zu besuchen? Er hatte sich schon lange bei niemandem mehr gemeldet, und er hatte in den letzten Wochen allen Kontakt verloren. Wer sollte das sein? Er wollte jetzt niemanden sehen, ihn sollte niemand sehen, er könnte es nicht ertragen, angeschaut zu werden. Er ließ es klingeln, minutenlang klingeln, er hielt sich die Ohren zu, verkroch sich unter der Decke. Aber das Klingeln wollte nicht aufhören, (wer?) und als es aufhörte, begann dieser Jemand an die Tür zu klopfen und eine Frauenstimme rief laut, er solle doch endlich aufmachen, sie wüsste, dass er da sei, der Fernseher sei doch laut zu hören. Es war eine flüchtige Bekannte aus der Uni, er erkannte ihre Stimme. Er solle sie doch bitte hereinlassen, er wäre eine ganze Weile nicht an der Uni gewesen und auch sonst nirgendwo in der Kneipe, ob ihm was fehlen würde, wie es ihm ginge, und sie hätten sich schon lange nicht mehr gesehen. “Lass mich in Ruhe!” rief er endlich barsch zurück, er hörte sie gehen, und er schaltete den Fernseher aus. Dann schlief er nach Wochen das erste Mal mit dem Gefühl ein, vielleicht doch nicht alleine zu sein, von jemanden gemocht zu werden, vielleicht nicht so anders zu sein.
Frühmorgens klingelte es dann wieder an der Tür, sofort war er hellwach. Das erste Mal seit Tagen hämmerte der Schmerz nicht in seinem Kopf. Er lächelte, er sprang aus dem Bett: “Moment, ich komme gleich”, und rannte ins Badezimmer, er wollte sich schnell abduschen: “Ich komme gleich!”, schließlich lag er seit Tagen im Bett und hatte seit Tagen keine frische Wäsche angezogen. Hastig warf er die Wäsche von sich und stellte sich unter die Dusche. Als er sich das Haar einseifen wollte, erinnerte ihn das Kopftuch heute Morgen zum ersten Mal an sein Problem. Er streifte es ab und ließ es in das rote Wasser fallen. Auf dem Wasser schwammen Büschel seinen Haares. Rotes Wasser? Warum rotes Wasser, und warum sind meine Beine rot und die Hände, alles ist rot. Mein Kopf! Mein Kopf, rot, er fühlt sich so anders an, hintenrum so eckig. Ihm sackten die Beine weg. Es klingelte wieder. Es klingelt wieder und ich hocke in meinem eigenen Blut. Klar denken! Reiß dich zusammen! Dir tut nichts weh! Du stehst jetzt auf, trocknest dich ab, ziehst dir was über, dann bindest du dir das Kopftuch um, gehst zur Tür, lächelst sie an und sagst ihr, dass du lieber allein sein möchtest.
Er stellte sich vor den Spiegel, vorsichtig tasteten seine Finger über die Geschwulst an seinem Hinterkopf. Behutsam, langsam, als würde er einem fremden Hund seine Hand entgegenstrecken, ganz vorsichtig erfühlte er die gewachsene, veränderte Wucherung. Fast atemlos, neugierig, entsetzt über die Größe dieser, versuchte er im Spiegel etwas zu erkennen, aber der war beschlagen, und er konnte nur fühlen, und er fühlte, dass das Geschwulst sich irgendwie wie ein Stein anfasste. Eckig, kantig, und rauh an der Oberfläche. Ihm schwindelte. Unmöglich es nur unter einem Kopftuch zu verstecken, unmöglich heute die Tür aufzumachen, vielleicht sieht die Sache morgen schon anders aus. Unmöglich! Ich kann mich doch so nicht unter Menschen wagen, ich bin doch nicht normal – sie klopft: “Bist du bald fertig, ich habe nicht ewig Zeit!” Was kann sie nur wollen? Von mir? Was soll ich tun? “Ja ich muss mir nur noch ein wenig anziehen.” Warum ist sie auch nur so hartnäckig, was will sie nur von mir? Was soll ich nur machen? “Mach doch einfach die Tür auf!” Er zuckte zusammen. “Ja.” Unmöglich das unter dem Kopftuch zu verbergen, aber er wollte, er wollte ihr die Tür öffnen. Unmöglich! Der Hut! der Hut! Das er an den nicht schon eher gedacht hatte, der Hut, den er sich letztes Jahr gekauft hatte, und dann die Rolladen herunterlassen. So könnte es gehen. Nur wenig Licht. So könnte es gehen. “Ich komme! Entschuldige, dass ich dich so lange warten ließ, aber…” “Schon gut; Ist es immer so schwer an dich heranzukommen? Dunkel hast du es bei dir.” “Ja, weißt du, meine Kopfschmerzen.” “Hab ich es mir doch gedacht, dass es dir mies geht, was fehlt dir denn?” “Es geht schon wieder, nur etwas Kopfschmerzen habe ich noch.” “Dann solltest du vielleicht den Hut abnehmen, der drückt doch nur.” “Nein, nein, der ist schon richtig, der hält meinen Kopf zusammen, weißt du.” Er bemühte sich witzig zu sein. “Du brauchst nichts zu sagen, ich verstehe schon.” Sie machte einen Schritt auf ihn zu: “Wo es dir doch gar nicht so schlecht geht, komm doch mit, ich wollte mich mit ein paar Leuten in der Kneipe treffen. Komm doch bitte mit.” Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu. Komm doch bitte mit. Nein, dass wollte er nicht, auf keinen Fall. Unmöglich! Er wich aus, wich vor ihr zurück: “Nein, ich will nicht!” “Aber warum nicht?” Sie ging erneut auf ihn zu. “Nein, nein!” Er wurde fast hysterisch. Unmöglich! Wie? Ich? So? Nein. “Nein!” Hastig drehte er ihr seinen Rücken zu, da hämmerte es in seinem Kopf wieder los. Mein Kopf, mein Hinterkopf. Heftig drehte er sich wieder um, sie zuckte erschrocken zusammen. “Nein, ich habe Kopfschmerzen! Lass mich in Ruhe, geh, ich will alleine sein, ich habe dich nicht gerufen, lass mich!” Er ließ sich auf sein Sofa falle und packte sich an die Schläfen. Dabei rutschte der Hut vom Kopf, ihr vor die Füße. Der Hut! Der Hut! Gott, mein Kopf! Der Hut, wenn sie… “Falls du es dir anders überlegst,” sie kritzelte etwas auf einen Zettel. “Hier ist meine Telefonnummer”, und legte den Zettel in den Hut. Dann ging sie und er blieb zusammengesunken sitzen.
Wieder allein, schoss es ihm durch den Kopf. Glück gehabt, sie hat nichts gemerkt – wieder allein, schoss es ihm durch den Kopf und mit einem Mal stiegen ihm Tränen in die Augen. Sieh nur, was aus dir geworden ist? Ein Monster in der Dunkelheit! Nein. Das wollte er nicht mehr sein. Er wollte leben! Lieben. Lachen. Er wollte nicht allein sein. Normal sein. Er nahm den Zettel mit ihrer Telefonnummer aus dem Hut. Der Zettel fühlte sich gut an, die Zahlen, die er las, bedeuteten ihm Hoffnung. Ja, er würde seine Unsicherheit, seine Angst, krank zu sein, nicht länger verdrängen, nicht länger versuchen, sie mit Tabletten zu betäuben. Und verdammt noch mal, ich ruf sie jetzt an und erzähle ihr alles! Und gleich morgen rufe ich beim Arzt an und erkundige mich nach den Ergebnissen. Oder besser noch: Ich sehe mich gleich nach einem Spezialisten um, damit ich auch wirklich in den besten Händen bin. Dann spülte er die restlichen Tabletten im Klo weg und rief bei ihr an. Sie freute sich über seinen schnellen Anruf. Klar könne er kommen und reden. “Ich freue mich”.
Es war schönes Wetter, so gingen sie spazieren. Dort, wo sie wohnte, war von der Stadt kaum etwas zu bemerken, die wenigen Häuser der Straße lagen versteckt zwischen Bäumen. Sie gingen durch den Wald, dort waren sie ungestört, und wie er es sich vorgenommen hatte, erzählte er ihr von seinen Kopfschmerzen, von dem Druck in seinem Kopf. Er zeigte ihr das Geschwulst. Er sprach von seiner Angst, von der Unsicherheit, die das Geschwulst in ihm verursachte, von der Panik, die ihn erfasst hatte, als der Hut wegrutschte. Er gestand ihr seine Minderwertigkeitsgefühle, dieses schreckliche Gefühl, vielleicht abnormal abstoßend zu sein. Er sprach von seiner Isolation, von Tabletten, vom Fernsehen, und er erzählte ihr von seinen Plänen und dass es so nicht mehr weiterginge. Sie hörte ernst zu, ließ ihn erzählen, erzählen, bis alles gesagt war. Dann gingen sie stumm eine Weile weiter, er nahm sein Kopftuch ab und sie nahm seine Hand und hielt sie fest. Später saßen sie engumschlungen auf einem wackligen Hochsitz, es dämmerte und die Luft hatte sich spürbar abgekühlt, aber sie wollten noch nicht gehen. Sie gestand ihm, dass er ihr schon lange nicht mehr gleichgültig gewesen wäre, aber dass sie sich nie getraut hätte ihn anzusprechen. “Aber als ich dich nicht mehr in der Uni sah, habe ich gemerkt, dass ich dich wirklich gerne sehen würde und ich wurde wütend auf mich, weil ich bisher zu feige gewesen war, dich anzusprechen. Ja und dann bin ich zu dir gefahren.”
Als es dann vollends dunkel geworden war, gingen sie zu ihr. Sie zündete Kerzen an, öffnete eine Flasche Rotwein und legte Musik auf. Lionel Richie. Er reichte ihr seine Hand und sie tanzten. Hello. Sehr zart und langsam. Sie kamen sich allmählich immer näher, er sang ihr leise ins Ohr. Love, Oh Love. Sie wühlte vorsichtig in seinen Haaren. Lange küssten sie sich. Sanft hob er sie schließlich hoch und seine Lippen berührten zärtlich ihren Busen, sie schlang ihre Arme und Beine um ihn, und knabberte, zärtliche, verrückte Dinge flüsternd, an seinem Ohr. Say you, say me…
Am nächsten Morgen frühstückten sie zusammen. Sie küssten sich ausgelassen und stießen mit ihren dampfenden Kaffeetassen an, sie schmierte ihm Marmelade auf den Bauch. Er war glücklich. Seine Kopfschmerzen waren nur noch ein leichtes dumpfes Vibrieren, eher eine Erinnerung an Schmerz als wirklicher Schmerz. “Wenn ich dich nicht hätte.” Er umarmte sie stürmisch und legte seinen Kopf in ihren Schoß, “Wenn ich dich nicht hätte, ich fühle mich so gut, so frei bei dir.” Sie nahm seinen Kopf in seine Hände und schaute ihm ernst in die Augen. Er küsste sie schnell auf den Mund. Dann war es Zeit für ihn, denn er wollte wieder zur Uni gehen. Er hatte erstmals seit langem Lust unter Leute zu gehen, an einer Diskussion teilzunehmen, mit alten Bekannten zu reden, er fühlte sich so gut.
In der Uni konnte er sich auf nichts konzentrieren, in Gedanken war er stets bei ihr und der gemeinsamen Nacht. Das war schön, aber schon bald fühlte er sich nicht mehr so gut, er traute sich kein einziges Mal, im Seminar etwas zu sagen, und je länger er stumm blieb, desto unsicherer wurde er. Einige grüßten ihn freundlich, und manche fragten ihn, wo er denn so lange gewesen wäre. Er wich ihnen aus und setzte sich alleine nach hinten an die Wand. Des besseren Überblicks wegen, wie er versuchte, sich einzureden. Schon während des zweiten Seminars ging er nach Hause. Er kam gerade die Tür herein, da klingelte das Telefon. Sie! Mit Schwung warf er sich auf das Sofa und griff zum Hörer. Es war aber nur die Sprechstundenhilfe. Die Ergebnisse seien endlich da, er solle doch bitte heute noch vorbeikommen. “Na, die Ergebnisse laufen schon nicht weg”, dachte er. Es wird schon nicht so eilig sein, ich möchte erst einmal sie sehen.
Sie gingen schwimmen, aber die schwüle Luft im Hallenbad tat ihm nicht gut, er war gereizt und zu allem Überfluss bekam er leichte Kopfschmerzen. Er wollte ihr nicht den Nachmittag vermiesen, so ließ er sich möglichst wenig anmerken und behielt seine Kopfschmerzen für sich. Vom Anruf der Sprechstundenhilfe erzählte er ihr, als sie danach fragte. Er ginge gleich morgen früh hin, sagte er. Sie fand es nicht gut von ihm, dass er das auf die leichte Schulter nehme. Er solle doch bitte noch heute zum Arzt gehen. Er brauste auf: “Was willst du denn, mir geht es gut! So gut, wie schon lange nicht mehr,” dann küsste er sie wild, und gleich morgen ginge er ja hin.
An diesem Abend waren sie wieder bei ihr. Er war noch schlechter gelaunt als am Mittag, sein Kopf schmerzte, sein Gehirn pochte. Mittlerweile war es dunkel geworden, sie zündete wieder Kerzen an. Seine Stimmung besserte sich merklich. Sie tranken Wein, alles erinnerte ihn an gestern. Er legte Lionel Richie auf. Hello. Er wollte tanzen. Sie hatte aber keine Lust, sie wollte lieber reden. Sie würde gerne mehr über ihn erfahren, was er früher so gemacht hätte. Er verzog ein wenig das Gesicht. “Was hast du, geht es dir nicht gut?”, sie schaute ihm sanft in die Augen, “Hast du wieder Kopfschmerzen?” “Gleich vorüber, halb so wild, lass uns doch tanzen.” Er bat sie ein zweites Mal und sie ließ sich überreden. Während er sich an der HIFI-Anlage zu schaffen machte, um Hello erneut abzuspielen, umarmte sie ihn von hinten und berührte aus Versehen mit ihrem Kinn seinen Hinterkopf “Au!”, er zuckte zusammen, sie zuckte zusammen. “Ich wollte dir nicht weh tun! Ich…” “Schon gut, laß uns tanzen.” Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er hatte Probleme mit den Schritten, sie drehten sich zwar nur langsam im Kreis, aber irgendwie fiel es ihm schwer, sich auf die Musik zu konzentrieren, sie zu fühlen, sie zu tanzen. Manchmal lachte sie leise auf, wenn er ihr wieder auf die Zehen getreten war und er vergrub seinen Kopf in ihrem Haar. Er war froh, als die Musik verstummte. Am liebsten wäre er sofort zu sich nach Hause gegangen. Er wollte nur noch ins Bett, die Augen schließen und schlafen. Aber weil er dachte, dass dieser Wunsch sie verletzen würde, fragte er sie, ob sie möchte, dass er hier schläft. Sie fragte zurück: “Und was möchtest du?” “Ich weiß es nicht, entscheide du.” Und sie strahlte ihn an: “Dann schlaf wieder bei mir, das fände ich toll!” Er lächelte müde.
Im Badezimmer zogen sie sich aus. Sie sei auch ganz schön müde, flüsterte sie ihm ins Ohr. “Ob das vielleicht an der letzten Nacht liegt?”, sprachs und flitzte mit dem Nachthemd in der Hand ins Bett. Er dachte an die Nacht zuvor, an seine intensiven Gefühle und an die Nähe, die sie so tief gespürt hatten. “Bleibe doch bitte noch ein bisschen nackt!”, bat er, und sie rekelte sich in den Kissen. Doch als er dann neben ihr lag, spürte er außer Müdigkeit nichts mehr, es verlangte ihn die Augen zu schließen und sich zur Wand zu drehen. Er sagte nur “Du bist wunderschön.” und dachte angestrengt an die erste gemeinsame Nacht. Wie sie sich rekelt, so schön, so nackt, so offen, ohne Scheu. Sie will mich! Mich! Und ich will sie glücklich machen! Glücklich machen, wie sie noch nie jemand glücklich gemacht hat! Wie gestern! So glücklich! Ich will…! Ich will…! Und plötzlich: Bin so müde! So müde. “Möchtest du mit mir schlafen?”, kaum drang ihre Stimme durch die bleierne Schwere, die sich über ihn gelegt hatte. Aber er riss sich zusammen. Ich will sie glücklich machen! Und er hockte sich hin und küsste ihren Bauchnabel, ihre Beckenknochen, suchte verzweifelt liebe Worte, die er gestern nicht zu suchen brauchte. Sie streichelte vorsichtig sein Haar, aber es schmerzte, leise stöhnte er. Er vergrub seinen Kopf an ihrem Hals, ihre Hände berührten zärtlich seine Wirbelsäule. Ich will sie glücklich machen. Wieder und wieder sagte er sich diesen Satz, in der Hoffnung sich von der Müdigkeit und den aufflammenden Kopfschmerzen abzulenken. Ich will…! Er wollte sich einfach auf die Seite legen und schlafen. Die Schmerzen vielleicht wegschlafen. Sie streichelte seinen Po, ihre Hand wanderte über seine Hüften zwischen seine Schenkel, was sie ihm zuflüsterte, verstand er nicht, hörte er doch nur immer wieder sich selbst sagen: Ich will sie glücklich machen! …will sie…! …sie…glücklich machen..!. Dich…! Sie…! DICH glücklich machen!
“ICH WILL DICH GLÜCKLICH MACHEN!”, schrie er plötzlich auf, “Ich will dich glücklich machen!”, schrie er mit weit aufgerissenen Augen und presste sich fest an sie. “Was machst du? Du tust mir weh.”, sie versuchte sanft seinen Griff etwas zu lösen, aber er hörte nichts, außer: Will dich glücklich…! Ich will…! “Ich will dich glücklich machen!” Er hörte nur noch dies und die Kopfschmerzen schlugen den Takt dazu. Ich will…! Ich will…! “Ich will dich…!” Die Schmerzen brannten. Oh, wie sie brannten! Brannten in seinen Kopf, lichterloh. “Ich will…!” LICHTERLOH. “Du willst doch gar nicht, lass doch los!” Doch er presste sich nur noch fester an sie. “Bitte hör doch auf, lass! Bitte!” Aber es schrie weiter aus ihm heraus: “Ich mache dich glücklich! Ich…!” “Lass mich! LASS MICH!” “MACH DICH GLÜCKLICH…!” Lichterloh brannte sein Kopf. “Lass mich bitte!”, flehte sie, aber er lag schwer wie ein Stein auf ihr. “LASS MICH!” Plötzlich verstummte er. Er riss seine Augen noch weiter auf. Panik schoss in sie hinein. “Ich”, beinahe fragend erreichte sein letztes artikuliertes Wort ihre Ohren. Dann begann er zu schreien.
Wie Popcorn in der Pfanne brach sein Hinterkopf auf. Sogleich war überall Blut. Auf ihrem Bauch, ihrer Brust, ihrem Gesicht, dem Bett, dem Boden. Er schrie wie ein Tier, und immer noch presste er sich an sie. Sie, die erstarrt war vor Entsetzen, die unfähig war, ihn von sich zustoßen, vielleicht von ihm weg, aus der Blutlache zu kriechen und sich die Ohren zuzuhalten. Voller Grauen spürte sie, dass sich seine Wirbelsäule zu bewegen begann. Mit letzter Kraft hob er seinen Kopf und blickte ihr mit nun stumpfen Augen ins Gesicht, während sein Mund weiter schrie. Dann platzte die Haut auf seinem Rücken auf, er schrie ein letztes Mal gellend, bevor er endgültig verstummte und sein Kopf schwer auf den ihren fiel. Der Schmerz dieses Aufpralls stieß vor bis zu ihrem Gehirn, und mit dem Schmerz stürzten die letzten Minuten auf sie ein. Das war zu viel für sie. All das Blut. Sein aufgeplatzter Kopf. Seine Schreie, die in ihren Ohren nicht verhallen wollten. Etwas in ihrem Kopf verdampfte wie eine überhitzte Sicherung. Sie sah Steine sich auftürmen aus seinem aufgeplatzten Kopf, Ziegel, die mit ihren scharfen Kanten die Wunde weiter aufrissen. Kaskaden Blutes flossen von ihnen hinab und sammelten sich im aufgerissenen Rücken. Vorsichtig wälzte sie den Körper von sich herunter, als ob sie ihm noch wehtun könnte. Von ihm war unterdessen fast nur noch das Gesicht zu sehen. Die Ziegel begannen sich zu ordnen. Sie setzten sich zusehends zu einer Art Haus zusammen. Die Verwandlung vollzog sich jetzt immer schneller. Die Ziegel verdichteten mit ihrem Eigengewicht das Haus, Lücken wurden geschlossen. Insgesamt schrumpfte dieses Etwas. Der Körper streckte sich. Sie sah es viel zu genau. Sein Gesicht wuchs in die Länge. Es wurde durch das Gewicht des Hauses nach vorne und nach hinten herausgedrückt und bildete eine steinfreie Masse, aus der auf einer Seite allmählich Fortsätze herauswuchsen. Das Haus entwickelte rundere Formen und schon bald quoll aus seinem Inneren eine Masse hervor, die sich unter dem Haus verdickte, dieses etwas anhob und eins wurde mit dem, was einmal sein Gesicht gewesen war…
Ihre Schwester fand sie 3 Tage später. Sie saß kichernd neben der Leiche. Ihre Schultern zuckten. Tränen liefen über ihre aufgeweichten Wangen. Als sie ihrer Schwester gewahr wurde, beruhigte sie sich soweit, dass sie dieser lächelnd, sauber artikulierend mitteilte: “Er hat sich zur Schnecke gemacht.” Das ausgesprochen begann sie, hilflos zu kichern: “Zur Schnecke gemacht.”
Ende
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