Anfang vom Ende des römisch-deutschen Kaisertums? Kaiser Friedrich I. Barbarossa bittet den Welfenherzog Heinrich den Löwen um Waffenhilfe gegen norditalienische Rebellen | Gemälde: Wikipedia
Während die Deutschen in den 1860er Jahren auf den Schlachtfeldern Mitteleuropas um ihre nationale Einheit fochten, tobte in den deutschen Hörsälen ein nicht minder bedeutender Kampf: Die Sybel-Ficker-Kontroverse. Eigentlich ging es den beiden Historikern, Heinrich von Sybel und Julius Ficker, um eine Neubewertung des mittelalterlichen Kaisertums. Doch bekanntlich steckt der Teufel im Detail: Der Protestant Sybel, ein Befürworter der kleindeutschen Lösung der Deutschen Frage, sah in der mittelalterlichen Kaiseridee das Haupthindernis für eine (frühere) Einheit der Deutschen. Der Katholik Julius Ficker, ein Vertreter der großdeutschen Lösung, lehnte die Argumentation Sybels vehement ab. Er verteidigte das mittelalterliche Kaisertum und zeichnete ein anderes Bild vom deutschen Mittelalter. Eine Zeitreise in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts …
Die Kontrahenten: Sybel versus Ficker
Heinrich (von) Sybel (1817-1895) kämpfte mit Papier, Feder und starker Rhetorik für die Einheit Deutschlands im 19. Jahrhundert. Sybel, geboren in Düsseldorf, entstammte einer alten protestantischen Pastorenfamilie. 1844 wurde der Rheinländer, der beim Begründer der deutschen Geschichtswissenschaft Leopold von Ranke studiert hatte, Professor in Bonn. 1846 folgte er dem Ruf nach Marburg. Auf Wunsch König Maximilians II. lehrte Sybel ab 1856 in München. 1859 gründete er die Historische Zeitschrift, eine der ältesten deutschen Fachzeitschriften für Geschichte. 1875 wurde er Direktor des preußischen Staatsarchivs.
Auch als Politiker hat sich Sybel einen Namen gemacht: Er galt als Führer der Nationalliberalen und war Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses in den Jahren 1862-64 und 18674-1880. Der Historiker befürwortete die kleindeutsche Lösung der Deutschen Frage und sah in der Gründung des Deutschen Reiches die Erfüllung seiner Träume. Sich selbst bezeichnete er als vier Siebtel Professor und drei Siebtel Politiker.
Die Kontrahenten: Julius Ficker und Heinrich von Sybel | Bilder: Wikipedia
Sybel und seiner „kleindeutschen“ Geschichtsauffassung stand der Katholik Julius Ficker (1862-1902) gegenüber. Ficker, 1885 geadelt, stammte aus einer wohlhabenden Ärztefamilie in Paderborn (Westfalen). Mit 27 Jahren wurde er nach Innsbruck berufen, wo er sein restliches Leben lang unterrichtet und geforscht hat. Er verbesserte die Methoden der Urkundenkritik, die er vor allem für die mittelalterliche Verfassungsgeschichte nutzte, und führte das Projekt Regesta Imperii erfolgreich fort. Auch als Rechtshistoriker hat er sich einen Namen gemacht. Seine Forschungen und seine Ergebnisse machten ihn zu einem bedeutenden Wissenschaftler Österreichs. Anerkennung wurde dem Historiker auch in Preußen zu Teil, das ihm den Pour-la-merité-Orden verliehen hatte. Im Konflikt mit Sybel verteidigte Ficker die Kaiserpolitik des Mittelalters. Politisch sympathisierte er mit großdeutschen Lösung.
Runde 1: Über die neuere Darstellung der deutschen Kaiserzeit
Der Historikerstreit entbrannte am 28. November 1959, wenige Wochen nach dem Ende des Sardinisch-Französisch-Österreichischen Krieges. In seiner Festrede zum Geburtstag König Maximilians II. von Bayern erhob Sybel Kritik an der positiven Kaiserdarstellung in der „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ von Wilhelm von Giesebrecht (1814-1889). Der Mittelalter-Historiker schrieb, dass „die Kaiserzeit die Periode ist, in der unser Volk durch Einheit stark zu seiner höchsten Machtentfaltung gedieh.“
Sybel sah es ganz anders: Nachdem Otto I. (912-973) die östlichen Gebiete an der Elbe erfolgreich erobert hatte, habe er beschlossen, auch die romanischen Staaten – Burgund, Frankreich und Italien – sich anzueignen. Statt die Energien des Volkes in die Kolonisierung des Ostens einzusetzen, hätten die mittelalterlichen Kaiser diese Kräfte für „einen täuschenden Machtschimmer im Süden der Alpen vergeudet“. In der „theokratisch gefärbten Weltmonarchie“, dem universalen Kaisertum, sah der propreußische Historiker das große Übel für die deutsche Nation. Eine positive Gestalt des deutschen Mittelalters wäre Heinrich der Löwe (ca. 1129? – 1195), der Herzog von Bayern und Sachsen. Dieser, so Sybel, hätte die Kräfte der Nation, „die widerwillig …. dem Gebote ihrer Herrscher zu den mörderischen Romfahrten [folgten]“, auf die ursprünglichen Ziele gerichtet: „auf die großen Gründungen in Österreich, Böhmen, Schlesien, Brandenburg, Preußen.“
Für die Habsburger fand Sybel keine positiven Worte: „Ohne Rücksicht auf nationale Grundlagen“ hat die Habsburger-Dynastie mit Kriegs- und Heiratspolitik europäische und asiatische Länder versucht an sich zu binden. Am Schluss seiner Rede stellte Sybel fest, dass die „nationale Sache” , d.h die Entwicklung der germanischen Stämme zu einer gemeinsamen Nation, nicht durch das Kaisertum begünstigt wurde, weil es nur an einer „chimärischen Weltunterjochung“ interessiert war. Der nationalen Sache dienten vielmehr König Heinrich I. und der Welfen-Herzog Heinrich der Löwe, weil sie die Energien des Volkes auf die Kolonisierung des Ostens konzentrierten.
Runde 2: Das deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen
Julius Ficker setzte sich mit den Argumenten Sybels in seiner Vorlesung „Das deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen“ (Veröffentlicht 1862) auseinander. Für den großdeutschen Historiker war das Kaiserreich vom bedeutenden Gewicht für die politische Entwicklung Europas und Deutschlands: Das Kaisertum verhinderte die Ausbreitung der Franzosen und der Normannen auf Kosten deutscher Gebiete. Es verhinderte die Ausbreitung des Islams auf der Apenninenhalbinsel. Kurz: Das Kaiserreich war ein Garant für Frieden und Sicherheit in Europa.
Auch für die Entwicklung der Nation war die Kaiseridee ideal: Das deutsche Königreich war nach Innen geeint und frei von ausländischen Einflüßen. Die Italienpolitik der mittelalterlichen Kaiser verteidigte Ficker. Einerseits hat sich Italien, das „eigentliche Kulturland Europas“, positiv auf die Entwicklung der deutschen Kultur ausgewirkt. Anderseits hat es verhindert, dass Frankreich Italien erobern könnte. Heinrich den Löwe bewertete Ficker nicht so positiv: Das deutsche Volk begrüßte es, dass dem eigensinnigen Welfen-Herzog die Herzogtümer aberkannt worden sind, da er Kaiser Friedrich I. Barbarossa (1122? – 1190) bei seinem Italienfeldzug nicht beistehen wollte.
Runde 3: Die deutsche Nation und das Kaiserreich
1864 versuchte Heinrich von Sybel mit seiner Schrift „Die deutsche Nation und das Kaiserreich“ die Argumente Fickers zu entkräftigen. Der Rheinländer verwies auf den Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum. Der Konflikt endete nicht nur mit einem Sieg des Papstes und einer Niederlage des Kaisers, sondern zerstörte auch die nationalen Grundlagen des deutschen Volkes. Unter den staufischen Königen verlor die Zentralmacht an Bedeutung. Während Karl der Große und die Ottonen noch über eine straffe Provinzverwaltung verfügten, konnten die Staufer nur mit diplomatischen Mitteln (z.B. mit der Billigung von Privilegien) ihren politischen Willen durchsetzen. So wurde Heinrich der Löwe mit zwei Herzogtümern belehnt, und ihm das Recht gegeben, Bischöfe einzusetzen. Auf diese Weise hoffte Kaiser Friedrich I. den Welfen-Herzog für seine Politik zu gewinnen.
Die Folgen, so Sybel, waren, dass der Kaiser auf seine Regierungsgewalt in Deutschland verzichtete und dass Fürsten zu einer beinahe königlichen Stellung aufgestiegen sind. Für den Niedergang des Kaisertums macht Sybel auch Friedrich I. Barbarossa mit verantwortlich. Der Kaiser hätte mit seiner falschen Italienpolitik, vor allem mit dem Ausgreifen nach Sizilien, das Gleichgewicht in Italien zerstört. Vorher bestand zwischen der kaiserlichen Dominanz in Norditalien, dem Kirchenstaat in Mittelitalien und dem Königreich Sizilien eine balance of power.
Mit der Expansion Richtung Sizilien machte sich der Kaiser den Papst zum Feind. Die Folgen dieser verhängnisvollen Expansionspolitik waren, so Sybel, 1) der Übergang der theokratischen Weltherrschaft vom Kaiser auf den Papst und 2) die Bankrotterklärung des deutschen Königreiches. Deutschland hat als „politischer Organismus“ und königliche Staatsgewalt aufgehört zu existieren. Der Niedergang der Zentralmacht hatte auch etwas positives: Die Kolonisierung und Germanisierung des Ostens wurde durch regionale Machtträger, die sich Heinrich den Löwen zum Vorbild nahmen, fortgesetzt. Der Erfolg dieser Unternehmung zeigte sich in der Entstehung der bedeutenden deutschen Mächte, Preußen und Österreich.
Sybels Fazit: Das deutsche Volk hat die Kolonisierung des Ostens vollendet, während das Kaisertum im Konflikt mit dem Papst untergegangen ist.
Runde 4: Deutsches Königtum und Kaisertum
Noch im selben Jahr erschien Fickers Antwort in der Schrift „Deutsches Königtum und Kaisertum“. Den Untergang des Kaisertums sah Ficker nicht im Duell Kaiser versus Papst, sondern im Dualismus Staufer – Welfen. Nach dem Tode Lothars III. erbten die Welfen, die bereits Bayern besaßen, auch das Herzogtum Sachsen. Die Folgen: Neben dem mächtigen Haus der Staufer entstand nun ein zweites, gleich starkes Fürstenhaus, das die Königskrone für sich beanspruchen konnte. Der Dualismus Staufer – Welfen war etwas ganz neues im Reich. Die Spannungen zwischen den beiden Häusern verhinderte den Ausbau einer starken, zentralen Monarchie. Um nicht die Unterstützung der anderen Fürsten zu verlieren, hat Friedrich I. Barbarossa davon abgesehen, Heinrichs Macht zu begrenzen.
Nicht der Sieg des Papsttums über das Kaisertum führte zu einem Niedergang des deutschen Staatswesens. Sondern mit dem Ende des Kaisertums verloren die Deutschen ihre politische Klammer. Während das gemeine Volk und die Fürsten durch die Idee des Kaiserreichs und durch die Ziele der Außenpolitik geeinigt und gefestigt waren, brach das Staatswesen und die Verbundenheit der Nation nach dem Tode Friedrichs II. von Hohenstaufen (1194 – 1250) zusammen. Die Nation war von nun ab von ihrer Aufgabe des universellen Kaiserreichs losgelöst.
Der entscheidende Wendepunkt zu dieser Entwicklung hin war die Doppelwahl Philipps von Schwaben (Staufer) und Otto VI. (Welfe) im Jahre 1198. Als sich die Streitigkeiten zuspitzten, übernahm Papst Innozenz III. (1160? – 1216) die Schiedsrichterrolle und nutzte die Schwäche Deutschlands, um die Deutschen aus Italien zu verdrängen. Denn nichts mehr fürchtete der Papst, als dass der Kirchenstaat vom Reich im Norden und Süden umzingelt war. Innozenz III. zerstörte das Gleichgewicht in Italien, mischte sich in die Innenpolitik des deutschen Königreiches ein und vernichtete die Grundlage für eine fruchtbare Zukunft eines nationalen deutschen Königtums.
Bewertung
Sybel ging als Sieger des Historikerstreites hervor. Vor allem die kleindeutsche-protestantische Nationalbewegung teilte seine Interpretation der mittelalterlichen Geschichte. Doch Sybels Ansichten haben weniger durch seine Argumente an Kraft gewonnen, als vielmehr durch die politische Entwicklung in Deutschland der 1860er Jahre: Österreichs Niederlage in Königgrätz 1866 und schließlich die Gründung des (klein-) deutschen Nationalstaates 1871. Sybel war der Vorkämpfer dieses Staates – seine Geschichtsdeutung legitimierte die kleindeutsche Idee und den preußischen Führungsanspruch.
Ficker stand der großdeutschen-katholischen Lösung nahe. Er würdigte das mittelalterliche Kaisertum, an das die Habsburger anknüpften, als ein erfolgreiches Machtsystem in Europa, das universale und nationale Ideen in sich vereinte. Nicht die Kaiseridee hinderte die Deutschen daran, ihr Nationalbewusstsein zu entwickeln, sondern der Zerfall der deutschen Königsherrschaft begünstigte die Zersplitterung des deutschen Staatswesens.
Obwohl sich beide Seiten, Ficker und Sybel, darauf berufen haben, es gehe um eine rein wissenschaftliche Debatte, wird die Tendenz der damaligen Tagespolitik (Krieg in Italien, preußisch-österreicher Dualismus, Einigungskriege) in ihren Argumenten überdeutlich. Beide Historiker überzeichnen die Bedeutung des Kaisertums: Für Sybel war es das Hindernis für eine frühere nationalstaatliche Einigung, Ficker lässt sich von einer idealistischen Sichtweise auf das Kaisertum beeinflussen.
Zwar verlor Ficker politisch die Auseinandersetzung um die Deutung des Mittelalters, aber nicht wissenschaftlich. Viele seiner Forschungsergebnisse haben bis heute Geltung. Anders bei Sybel: Er unterschätzte die Romidee, an die das Kaisertum gebunden war, und er verkannte die Anziehungskraft des reichen Norditaliens. Der Osten Europas war im Mittelalter dagegen dünn besiedelt und unterentwickelt. Erst im 19. Jahrhundert konnte man sagen, dass die deutsche Ostsiedlung ein Segen für die Region war.