“Hör mal, mein Hase…” sagte Maurice mit leichter Verärgerung in der Stimme, als wir uns der angegebenen Adresse näherten. “Ich hoffe jetzt sehr für dich, dass sich die Sache in zwei Minuten erledigen lässt.”
Ich betrachtete stumm die sich langsam vor uns aufbauende Szenerie. Ich sah ein Einfamilienhaus, dessen Fenster trotz der vorgerückten Stunde hell erleuchtet waren. Vor uns war die kleine beschauliche Straße vollgeparkt mit Fahrzeugen des Rettungsdienstes und der Polizei.
“Ich glaube, da wirst du enttäuscht werden.” sagte ich schließlich. Maurice fluchte laut in meine Richtung. Etwas ruppig fuhr er das Auto auf den Bordstein und stellte den Motor aus. Lieblos knallte er mir mein Schreibbüro in den Schoß. dann zerrte er den Medikamentenkoffer aus dem Kofferraum. Ich wartete auf ihn und wir gingen gemeinsam zum Gartentor, vor dem ein First Responder stand und eine rauchte. Er wies wortlos auf die geöffnete Eingangstür.
“Was ist denn los?” fragte ich den Kerl von etwa 20 Jahren, der etwas teilnahmslos dreinschaute.
“Das müsst Ihr Euch selbst ansehen…” sagte er geheimnisvoll und wandte sich dann wieder seiner Zigarette zu. Ich zuckte mit den Achseln und sah Maurice etwas hilflos an. Dieser fluchte erneut und schob mich unsanft in Richtung Tür.
In dem geräumigen Wohnzimmer fand sich eine gewaltige Menschenansammlung. Neben der RTW-Besatzung zählte ich noch drei Polizisten, die beschwichtigend auf einen aufgeregt wirkenden Herren von etwa 40 Jahren einwirkten. Auf einer weitläufigen Sitzgruppe saßen noch sieben Frauen und Männer mittleren Alters, sie alle trugen weiße Gewänder, welche in der Taille mit einem gelben Band zusammengehalten wurden. An den Füßen trugen sie allesamt braune Jesustreter. Die Frauen hatten lange Haare und trugen kein Make-up, was mir eitlem Pfropf natürlich sofort auffiel. Die Männer hingegen trugen Vollbart. Ein Mann saß auf einem kleinen Extraschemel und hatte die Augen geschlossen, als würde er meditieren. Er trug den längsten Bart und hatte die längsten Haare. Ich vergewisserte mich schnell, dass Shanti hier nicht auch noch irgendwo rumsprang, aber unter den Weißgekleideten fand sich keiner mit Dreadlocks.
“Guten Tag allerseits.” sagte ich laut, um etwas Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
“Ah, die Notärztin…” sagte einer der Jungs vom RTW.
“Er hat ihn einfach verschluckt!” rief der eine Herr erregt und zeigte auf denjenigen, der entspannt auf dem Schemel saß.
“Wer hat wen verschluckt?” fragte ich. Einer der Polizisten hielt den Herren am Handgelenk, der gerade in Begriff war, sich auf den noch immer meditierenden Guru in der Mitte zu stürzen.
“Also…” einer der Rettungsassistenten trat vor. “Dies hier ist Herr Kleinschmitt.” Er zeigte auf den Mann zwischen den Polizisten. “Herr Kleinschmitt wohnt hier und hat seine Räumlichkeiten für diese Herrschaften einer Freikirche zur Verfügung gestellt. Sie feiern Ostern oder so.” Wie auf Kommando fing der Verein auf der Couch an zu singen.
“Ruhe jetzt!” rief Maurice lautstark. Das Gesinge brach sofort ab. Erschrocken starrten die Freichristen auf Maurice, der sich drohend vor ihnen aufgebaut hatte. Der Rettungsassistent setzte erneut an. Er zeigte jetzt auf den Kerl auf dem Schemel. “Und das hier ist Herr Moselbach.” Der Angesprochene reagierte nicht. “In einem ungewöhnlichen Ritual hat Herr Moselbach den Kanarienvogel des Herrn Kleinschmitt verschluckt. Jetzt herrscht etwas Unmut bei Herrn Kleinschmitt ob des Verlusts des Kanarienvogels.”
“Das können Sie wohl laut sagen. Es war ja schließlich MEIN Kanarienvogel!” empörte sich Herr Kleinschmitt. Herr Moselbach sagte noch immer nichts.
“Hat er ihn vorher gergillt oder so?” fragte ich irritiert.
“NEIN!” rief Herr Kleinschmitt. “Das wäre ja noch schöner. Er hat ihn einfach so verschlungen. Er hat nicht mal gekaut!”
“Sind wir jetzt hier, weil Sie sich so aufregen oder weil Sie sich Sorgen um die Gesundheit von Herrn Moselbach machen?” fragte ich freundlich. Herr Kleinschmitt sah mich böse an.
“Sie sind hier, weil ich meinen Kanarienvogel wieder haben will!” echauffierte er sich.
“Ah so.” gab ich zurück. “Warum hat er den Kanarienvogel denn überhaupt geschluckt? Vielleicht hätten Sie ein paar Häppchen anbieten sollen?” Herr Kleinschmitt schrie etwas Flegelhaftes in meine Richtung.
“Irgendsoeine Wiederauferstehungsnummer.” sagte einer der Polizisten. “Wir haben es auch nicht so ganz kapiert.”
“Aha.” bemerkte ich. Dann drehte ich mich zu Herrn Moselbach. “Sagen Sie doch auch mal was.” forderte ich ihn auf.
“Piep.” machte dieser, ohne dabei die Augen zu öffnen.
“Er hat Piep gesagt.” sagte ich zu Maurice.
“Ich hab’s dir ja gesagt, wir hätten lieber zu der Ketanest-Nummer fahren sollen.” erwiderte dieser.
“Da hast du wahrscheinlich recht.”
“Er hat gesprochen!” rief einer der Freaks von der Couch. Sofort verfiel die Truppe wieder in ekstatische Gesänge. Maurice legte resignierend sein Gesicht in seine Hände, Herr Kleinschmitt tobte und musste mittlerweile von zwei Ordnungshütern festgehalten werden und ich überlegte, wie sich dieses Schauspiel wohl schnell würde beenden lassen…