Wenn jemand „Gegen die Demokratie“ oder gar „Gegen die Liebe“ predigt, ist das in Deutschland sicher weniger salonfähig, als wenn jemand aufzeigt, was alles „Gegen den Fortschritt“ spricht. Das mag dazu beitragen, dass „Gegen den Fortschritt“ hierzulande das erfolgreichste Stück aus der „Contra“-Trilogie des katalanischen Autors Esteve Soler ist. Ob wir uns zu weit vom „survival of the fittest“ wegzivilisiert haben, ob wir unser Privatleben zu sehr durch Verträge regulieren, ob unsere Kinder zu viel Spaß an Gewalt haben und ob überhaupt die Menschen auf Dauer eine Seuche für die Erde sind – aus diesen großen und politisch korrekten Fragen generiert Soler scheinbar alltägliche Szenen, die nur deshalb so ulkig wirken, weil sie ihren Grundgedanken konsequent zu Ende denken.
Vor drei Jahren konnte das Münchner Publikum Solers Drama im Marstall erleben, nun präsentiert es die mexikanische Truppe teatro sibversum im spanischen Original bei Heppel & Ettlich. Vergleicht man beide Produktionen, so kommt man in Versuchung, nationale Klischees zu bestätigen, denn während Jan-Philipp Glogers deutsche Version des zivilisationskritischen Szenenreigens von Verstörung, Anspannung und Nervosität gekennzeichnet war, gehen die Mexikaner unter der Regie von Cecilia Bolaños mit rücksichtlosem Temperament heran. Extrovertiert, rampenzugewandt, selbstsicher, laut, bewegungsfreudig und mit einer gewissen schauspielerischen Selbstgefälligkeit. Mancher mag diesen Stil als oberflächlich empfinden, aber was die Mexikaner machen, das machen sie gut: Die aus professionellen Schauspielern und Laien gemischte Gruppe agiert ausnahmslos mit starkem Charakter und auf beachtlichem Niveau. Und Solers Text hat eine so klare Stoßrichtung, dass das kritische Potential mühelos durch die hochenergetische Schale durchbricht. Erstaunlicherweise läuft der Dauerhochdruck auch selten Gefahr, auf der Stelle zu treten, denn obwohl gern geschrien, gerangelt und selbstzweckmäßig auf der Bühne von links nach rechts stolziert wird, bleibt das Spiel präzise, sind die Drehpunkte im Text sauber erarbeitet, werden die Szenen plastisch. Besonders schöne Momente gelingen dort, wo sich in den entfesselten Spielfluss ganz nebenbei formalistische Körperskulpturen einschleichen – da erscheinen die egomanischen Charaktere für einen kurzen Moment fremdgesteuert und ausgestellt. Die halbherzig und effekthascherisch als Spielleiterin eingebaute Domina mit Lederkostüm und Peitsche hätte man da gar nicht gebraucht, um die Abhängigkeit der Figuren von einem höheren System zu zeigen.
Technisch greift die Inszenierung leider tiefer in die bescheidene Trickkiste der Kabarettbühne, als sie es verträgt: Andauernde Lichtwechsel zwischen kaum unterscheidbaren Stimmungen stören die Konzentration, und zudem interferiert das Licht immer wieder unangenehm mit den Beamerprojektionen. Da hätte man weniger herumspielen und sich auf die Gegebenheiten des Raumes einlassen sollen. Schließlich tragen auch die Übertitel ihren Teil zu der Lichtklekserei bei; sie sind aber unverzichtbar, um auch deutschen Zuschauern das Verständnis dieser Aufführung zu ermöglichen. Und gerade für die lohnt es sich – weil man hier einen konsequent spielfreudigen Stil genießen darf, der sonst in unseren Landen eher mit Vorsicht genossen wird.