Dass nicht alles rosig ist beim Design Thinking wussten wir schon: Das Vorgehensmodell hat viele Unzulänglichkeiten, die durch quasi-religiöse Rituale und Gute-Laune-Ideologie nicht aus der Welt zu schaffen sind. Wie oft hatten wir den Kontext erhellt, das Neue mit dem Vorherigen verrechnet, uns geärgert über die Politik der Innovation auf "Biegen und Brechen", die Ablehnung von Zögern und Nachdenken, die dauernde Betriebsamkeit im harten Takt der Stoppuhren, die angeblich die kreative Leidenschaft antreiben; über Innovatoren, die Bedürfnisse für gesättigte Märkte erfinden und den Begriff der Empathie für immer schwer beschädigt haben, weil sie als Gegenüber Menschen zeichnen, die kaum mehr als gute KonsumentInnen sind, es sein müssen.
Doch natürlich gibt es auch Gutes und nette Erlebnisse rund um den Schnellkochtopf Design Thinking: Für andere Fachkulturen zum Beispiel stellt sich erstmals Design als Prozess irgendwie greifbar dar - das hatte man in vorherigen Jahrzehnten ja kaum so knapp und einfach geschafft. Folge: Manager können's jetzt auch! In einem Tagesworkshop! Dazu kommt, dass seit Design Thinking auf der Bildfläche erschien, alles mögliche mit dem Begriffszusatz "-Thinking" schmückt - und wir alle wissen, was das zu bedeuten hat: Gar nichts wird hier gedacht, sogar im Gegenteil.
All das ist heute aber auch ziemlich normaler Spätkapitalismus - Zweifel sind in diesem Geiste nur das Grummeln derer auf der Kante zum Abgrund, Leute, die Ängste haben, die man auf keinen Fall aussprechen sollte. Also rate ich allen zu, sich Design Thinking zu Eigen zu machen, und zwar sofort und möglichst schnell.
Nun hat sich endlich die Wissenschaft - in Person von Tim Seitz - mit dem Thema befasst und sich zwecks ethnografischer Forschung in die bunte Post-it-Welt einer Berliner Innovationsagentur begeben. Dabei muss man zunächst klarstellen, dass Tim Seitz überhaupt nicht antritt, um irgendwelche Designdiskurse zu bearbeiten. So zieht er auch nirgends Vergleiche zwischen Design Thinking und anderen Prozessen und Praktiken im Design. Um was es ihm geht, ist die Untersuchung der Versprechen des Design Thinking, nämlich durch empathisches Vorgehen Waren und Dienstleistungen zu entwerfen, die "wahre Bedürfnisse" stillen. Wenn er Selbstbeschreibungen, u.a. direkt aus dem Mund des Design Thinking-Erfinders Tim Brown zitiert, wird klar, dass es um nicht weniger geht, als die Welt aus den Angeln zu heben.
Hauptsächlich folgt man Tim Seitz - getarnt als Praktikant - ins Feld, kauert hinter Stellwänden, hantiert mit Post-its und lauscht Gesprächen. Seine Feldnotizen tragen mitunter amüsante, fast satirische Züge, weil sie zeigen, dass bei aller Ideologie des Gelingens eigentlich überall mit Wasser gekocht wird und gute Laune harte Arbeit ist.
Mit dem beschriebenen Ringen des Autors um die passende theoretische Rahmung seines Vorgehens lernen Designer_innen bei der Lektüre auch gleich noch, welchen Unterschied die wissenschaftliche Forschung in der Praxis macht. Der Autor beteuert, dass es ihm nie um die Diskreditierung des Vorgehensmodells des Design Thinking ging, und doch drängen sich beim Abgleich der Selbstbeschreibungen, der Design Thinking -Praxis und den Erkenntnissen über die Krake des Spätkapitalismus mit seinen Phänomenen der Selbstoptimierung doch Eindrücke auf, die man so leicht nicht wieder los wird. Seitz' Fazit: Design Thinking ist weder Garant für besonders neue, erfolgreiche Ideen, noch werden die Nutzer auf besondere Weise gehört, noch emanzipiert sich die Arbeitsweise von hierarchischen Modellen hinreichend - was geschieht, ist dass das Subjekt die Kontrolle und Optimierung verinnerlicht. Was bleibt, ist der Glaube - an Tim Browns Wunder und Erfolge.
Wobei wir bei der eigenen Reflektion von Gestaltungsprozessen wären; denn abseits aller angeblich neuer Modelle kreativer Arbeit war Design natürlich immer schon fest an das gemeinsame Entwickeln von "Wundern" und einer Ökonomie der Überzeugung gekoppelt. Wenn man der Beliebtheit des Design-Thinking-Modells etwas abgewinnen kann, ist es, dass es einem Nutzerbezug und dem Stakeholder-Denken Vorschub geleistet hat. Den gab es nämlich in vielen Entscheidungsstrukturen abseits von Marktforschung gar nicht. Trotzdem ist es kein großer Schritt auf die Menschen zu, wenn man die vermeintlich so wichtigen Nutzer im Design Thinking -Prozess geschwind zu Post-it-Zetteln und optimierten Fantasiekonsumenten werden lässt. Da verdecken die marktstarken, weil einfachen Rezepte des Design Thinking so manche gegenwärtige Praxis der Beteiligung.
Aber das zu unterscheiden ist der Job der Designerinnen und Designer - eine Vielfalt von Vorgehensweisen finden und erfinden zu können und dabei immer kritisch prüfen können, welchen Anspruch gestalterisches Vorgehen in welchen Strukturen erfüllen will und kann - und welchen eben nicht.
Sehr erhellende und sogar amüsante Lektüre, wenn man sie im Kontext der Dogmen und Mythen der eigenen Praxis liest.