Hinter dem Horizont

Erstellt am 28. August 2014 von Michael

WHAT DREAMS MAY COME
USA 1998
Regie: Vincent Ward
Darsteller: Robin Williams, Cuba Gooding, Jr., Annabella Sciorra, Max von Sydow, u.a.
Drehbuch: Ronald Bass nach einer Novelle von Richard Matheson
Studio: Polygram
Deutschsprachige Kinoauswertung 1998 unter dem Titel Hinter dem Horizont
Dauer: 113 min

DER FILM:
Für meine Wahl dieses Films gab es zwei aktuelle Anlässe. Der eine war der Tod von Robin Williams, der andere ein Todesfall in unserer Familie.
What Dreams May Come stand schon länger auf meiner Wunschliste; die negative Rezeption, die er hierzulande bei seiner Erstaufführung aus Kritikerkreisen erhielt, hatte mich aber immer wieder zögern lassen. Wieder einmal zu Unrecht, wie ich nun feststellen konnte.
Der Film ist eine geglückte Verfilung des gleichnamigen Romans von Richard Matheson. Matheson, der vor allem als Autor von Science-Fiction-Romanen mit Horrorelementen bekannt wurde (The Incredible Shrinking Man, I am Legend), war auch als als Drehbuchautor, u.a. für Roger Corman tätig. Er kehrte 1978 mit dem Roman What Dreams May Come, dem eine lange Beschäftigung mit dem Tod und verschiedenen Jenseitsvorstellungen voranging, seinem bevorzugten Genre den Rücken. Das Buch erschien im Goldmann-Verlag auch auf Deutsch, unter dem Titel Das Ende ist nur der Anfang.
What Dreams May Come passt insofern zum Tod von Robin Williams, als dass dieser darin einen Mann spielt, der zu Beginn des Film stirbt und sich darauf im Jenseits zurechtzufinden versucht. Zudem sind auch Depression und Selbstmord zentrale Themen des Werks.
Regie führte Vincent Ward, ein neuseeländischer Maler/Regisseur, der nur alle paar Jahre einen Film dreht.
What Dreams May Come erzählt im Grunde eine Liebesgeschichte. “Das Leben nach dem Tod” ist das “Nebenthema” des Films, allerdings ein ganz zentrales. Es wird jeweils sehr schnell zum zentralen Diskussionspunkt, wenn über den Film gesprochen wird, weil da ganze Weltauschauungen dran hängen. Wer den Gedanken an ein Jenseits ablehnt, wird auch diesen Film ablehnen (müssen). Dies ist wohl auch der Hauptgrund, weshalb er vom Gros der Kritik verdammt wurde. Doch gerade das Thema und vor allem dessen Umsetzung macht What Dreams May Come in meinen Augen zu einem der aussergewöhnlichsten US-Film der letzten zwanzig Jahre.

INHALT:
Mit Chris und Anna finden sich zwei verwandte Seelen. Die beiden heiraten, kriegen zwei Kinder – und dann bricht die Katastrophe über sie herein: Die Kinder werden bei einem Autounfall getötet. Zwei Jahre später kommt auch Chris bei einer Autokarambolage ums Leben. Anna bleibt allein zurück, versinkt in einer tiefen Depression – und nimmt sich schliesslich das Leben.
Das ist der eine, der “irdische” Teil des Films.
Hinter dieser Handlung sehen wir, was Chris im Jenseits erlebt. Nur schon dieser lapidare Satz wird bei einigen negative Reaktionen wecken. What Dreams May Come ist ein Film, der sich eigentlich nur erleben lässt; erklären kann man ihn nicht, nicht ohne ständig falsche Assoziationen zu wecken. Er setzt ein offenes Publikum voraus – und mit “offen” meine ich die Bereitschaft, sich auf einen Inhalt einzulassen, auch wenn er nicht dem eigenen Weltbild oder Glauben entspricht. Wer das nicht kann, dem entgeht ein wirklich grandioses und singuläres Stück US-Kino.
Das Jenseits entpuppt sich als der “gemeinsame Ort”, den sich Chris und Anna ausgemalt hatten, und den Anna, eine Kunstrestauratorin und Malerin auf ihren Gemälden festgehalten hatte. Das Jenseits sieht für jeden anders aus, gemäss den eigenen Vorstellungen und Phantasien – das erklärt Chris’ Freund Albert, der ihn “drüben” empfängt und ihn begleitet. Als Anna Selbstmord begeht, lernt Chris die dunkle Seite des “Himmels” kennen. Denn wer sich vor der Zeit umbringt, wird für immer an einen finsteren Ort verdammt… Chris macht sich auf den Weg zur “Hölle”, um Annas Seele zu retten.

DIE UMSETZUNG:
Der neuseeländische Regisseur Vincent Ward setzt das Ganze mit phantastischen, starken Bildern um. In ihrer Ausdruckskraft und Originalität lassen sie sich stellenweise mit Terry Gilliams fiebertraumartigen Visionen vergleichen. Der Kitsch auf dem DVD-Cover scheint im Film nur selten auf. Wards eigenwillige Jenseits-Visionen faszinieren und packen, nicht zuletzt durch den Umstand, dass sie die Jahre (16 an der Zahl!) und den rasanten CGI-Fortschritt so überraschend gut überdauert haben. Die Sequenzen, in denen Robin Williams und Cuba Gooding Jr. durch gemalte Welten wandern, sind schlicht atemberaubend. Insgesamt bleibt der Film wegen Thema und Machart einzigartig in der US-Kinolandschaft.
In fast jeder Einstellung wird deutlich, dass der Regisseur nicht nur Filmer, sondern auch Maler ist. Bis vor Kurzem war Vincent Ward mit mehreren Multimedia-Ausstellungen seiner Arbeiten (Malerei, Fotografie und Video-Installationen) und zwei Buchprojekten beschäftigt, seit 2008 hat er keinen Film mehr gedreht. Zwischen seinen insgesamt acht Filmen, die zwischen 1978 und 2008 entstanden, lagen allerdings immer wieder zum Teil jahrelange Pausen.
Die Schauspieler sind ausnahmslos glänzend, ihrem verhaltenen und doch ausdrucksstarken Spiel ist es zu verdanken, dass der Film nie ins Rührselige abdriftet. Ganz besonders Robin Williams packt mit seinem leisen, aber intensiven Spiel, das – wie immer bei diesem Schauspieler – in jedem Moment wahr und authentisch, zutiefst menschlich bleibt. Dieser Film macht besonders deutlich, welch grosser Verlust Williams Tod für die Filmwelt bedeutet. Hier konnte er nicht nur sein Potential wunderbar entfalten, What Dreams May Come erscheint rückwirkend gar als eine Art Vermächtnis dieses grossen Schauspielers.

Meine Bewertung: ♥ ♥ ♥ ♥ ♥ ♥ ♥ ♥ ♥
Wer sollte sich den Film ansehen:
Leute, die eine originäre, poetische Bildsprache und bildnerisches Erzählen zu schätzen wissen; Leute, die dem Thema des Films mit Offenheit begegnen können; Leute, die Film nicht strikt als Abbildung der Realität begreifen.
Wer sollte sich den Film nicht ansehen: Leute, die finden, Film müsse die Realität abbilden; Leute, die ihren Standpunkt jeweils schnell gefährdet sehen; Zyniker.

DIE DEUTSCHE DVD:
Audio: Englische Orginalfassung; Synchronfassungen: Deutsch, Italienisch, Spanisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Extras: keine
Universal hat leider wenig Herzblut in die Produktion dieser DVD investiert – die Bildqualität lässt zu wünschen übrig, vor allem die Bildschärfe enttäuscht; die hätte bei dieser Bilderpracht schon besser ausfallen müssen! Extras sucht man vergebens. Das ist sehr schade – gerade bei einem so aussergewöhnlichen Film.
Alternative: Wer Wert darauf legt, diesen grandiosen Film in gebührender Qualität sehen zu können, sollte sich die Region-Free Blu-ray-Ausgabe aus den USA zulegen; sie wartet – neben exzellenter Bildqualität – mit einigen Extras auf, darunter u.a. ein Audiokommentar des Regisseurs, das alternative Ende des Films und Interviews mit den Schauspielern. Hier ein Artikel dazu vom DVD-Beaver…
Bei uns ist der Film leider ausschliesslich auf DVD zu haben. Die US-Blu-ray kann zur Zeit aber günstig via amazon.de bezogen werden.

TRAILER:

VORHER – NACHHER:
Vincent Ward ist wahrlich kein Vielfilmer. Seine letzte Regiearbeit vor der hier besprochenen lag sechs Jahre zurück und hiess Map of the Human Heart (dt.: Flucht aus dem Eis, 1992); seinen nächsten Film drehte er sieben Jahre nach dem hier Besprochenen, nämlich River Queen (2005). Sein bekanntestes Werk bislang ist The Navigator: A Medieval Odyssey (dt.: Der Navigator, 1988). (“Hauptsache (Stumm) Film” wird sich diesem Film demnächst annehmen.)
Robin Williams spielte im Jahr zuvor in Gus van Sants Good Will Hunting (1997), im Jahr darauf in Tom Shadyacs Patch Adams (1998).
Annabella Sciorra war ebenfalls 1998 in Abel Ferraras Science-Fiction-Thriller New Rose Hotel zu sehen. Ihr nächster Film liess zwei Jahre auf sich warten; es war Above Suspicion (dt.: Ketten der Vergangenheit; Stephen La Rocque, 2000).
Cuba Gooding Jr. stand zuvor for As Good as it Gets (dt.: Besser geht’s nicht; James L. Brooks, 1997) vor der Kamera; sein “Film danach” hiess A Murder of Crows (dt.: Diabolische Versuchung; Rowdy Herrington, 1998).
Max von Sydow ist inzwischen 85 und filmt immer noch. Vor dem besprochenen Film war er in der Bibelverfilmung Solomon von Roger Young (dt.: Die Bibel – Salomon) als alternder König David zu sehen. Danach kam eine weitere tragende Nebenrolle in Scott Hicks Snow Falling on Cedars (dt.: Schnee der auf Zedern fällt, 1999). Zur Zeit steht von Sydow für Star Wars Episode VII vor der Kamera.
Ronald Bass schrieb das Drehbuch zum zuvor gedrehten Film How Stella Got Her Groove Back  (dt.: Stella’s Groove: Männer sind die halbe Miete; Kevin Rodney Sullivan, 1998), danach verfilmte Chris Columbus sein Drehbuch Stepmom (dt.: Seite an Seite, 1998)

VORSCHAU:
Als nächstes plane ich eine Rezension von Sweet Hostage. (dt.: Geliebte Geisel), einem amerikanischen TV-Spielfilm von 1975 mit Linda Blair und Martin Sheen.