Himmelstreppe auf den Großglockner

Von Berghasen

Über den Stüdlgrat auf den Großglockner – ein Anstieg, der diesem traumhaften Gipfel mehr als gerecht wird.

Ich linse nach oben. Vier Stunden nach unserem Aufbruch von der Stüdlhütte leuchtet mir das Gipfelkreuz des Großglockners entgegen. Endlich! Die goldene Scheibe in seiner Mitte glüht im Sonnenlicht. Lange habe ich mich nach diesem Anblick gesehnt.

Unsere Seilschaft ist frei. Keine Expresse und kein Haken verbinden uns mit dem Fels. Frei ist auch der Weg zum Gipfel. Wir müssen keinen Steinblock mehr überklettern, uns durch keinen Kamin zwängen oder Hände und Füße in Risse verkeilen. Bloß die unerwartet frischen Beine über kleine Felsblöcke hieven. Am liebsten würde ich laufen. Oder Räder hochschlagen. Ich kneife die Augen zusammen und schüttle den Kopf. Konzentriert bleiben Susi. Ein Fehltritt könnte selbst hier tödlich enden. Besonders hier.

Ich hole das restliche Schlappseil ein. Zusammen schreiten Markus und ich die letzten Schritte bis zum Gipfel. Der Stüdlgrat ist überwunden. Jetzt strahlt nicht nur die Goldscheibe am Gipfelkreuz, sondern auch ich. Aus tiefster Seele heraus. Ich bin vollkommen von Glück geflutet.

Vier Stunden früher: In der Stüdlhütte herrscht Aufbruchstimmung. Expressen klimpern am Fliesenboden, Seile werden geschlichtet und über Schultern geworfen. Der ein oder andere zwängt sich bereits in den Klettergurt. Ich sitze am Boden und schnüre meine Bergschuhe. Vor mir stapfen Bergsteiger nervös hin und her. Habe ich alles wichtige eingepackt? Neben mir sitzt ein Tscheche und isst Dosenfisch. Die Uhr zeigt 05:30. Um zu vermeiden, dass mir das Frühstück wieder hochkommt, schultere ich den Rucksack und drücke die schwere Eingangstür der Stüdlhütte auf. Ein Atemzug und frische Morgenluft strömt in meine Lungen.

Der erste Blick geht gegen den Himmel. Klar. Keine Wolken. Keine Sterne, da es schon zu dämmern beginnt. Die Bedingungen lassen auf einen perfekten Gipfeltag hoffen. Es ist windstill. Und die Temperaturen sind für diese Höhe fast sommerlich. Ich warte, bis Markus durch die Schwelle tritt. Dann knipsen wir unsere Stirnlampen an und marschieren los. Nach der kurzen Nacht und dem üppigen Frühstück kommt mein Körper nur langsam auf Touren.

Vor uns schlängelt sich eine Lichterkette zum Luisenkopf hoch. Die Stirnlampen heben sich flackernd von der dunklen Berglandschaft ab. Als wir die 3000er-Marke überschreiten, färbt sich der Himmel im Osten orange. Erst jetzt im Morgenlicht erkennen wir, dass die Täler und Becken rings herum mit Nebel gefüllt sind. Die Gipfel ragen wie Messerspitzen aus dem Wattemeer.

Die Ober-Frühaufsteher und Frühstücksverschlinger holen wir am Rande des Teischnitzkeeses ein. Wir tun es den anderen Grüppchen gleich, ziehen die Steigeisen an und binden uns vorsichtshalber ins Seil ein. Die oberste Schicht des Gletschers ist über Nacht zu Eis gefroren. Im immer gleichen Rhythmus knirschen die Steigeisen unter meinen Schritten. Atmung und Schrittfrequenz verschmelzen ineinander.

Immer wieder schweift mein Blick in die Ferne. Der Sonnenaufgang färbt den Gletscher von schwarz zu weiß. Die Umgebung bekommt mit jeder Sekunde mehr Kontrast. Berge nehmen neue Formen an, Details werden sichtbar. Fast vergesse ich, dass ich auf den Glockner will. Der Berg steht dunkel vor uns. Er sieht friedlich aus und scheint uns mit offenen Armen willkommen zu heißen. In Gedanken verloren stolpere ich beinahe über unser Seil. Ich fauche Markus an, das Seil straff zu halten und mein Tempo zu gehen. Nein, ich bin keine angenehme Seilpartnerin.

Vor uns überquert und umgeht eine Seilschaft aus sechs Holländern die überraschend tiefen Spalten im Teischnitzkees. Wir müssen unbedingt an ihnen vorbei, bevor wir den Einstieg des Stüdlgrates erreichen. Weniger, weil sie Holländer sind, sondern weil sie am Stüdlgrat zu sechst nur langsam voran kommen können.

Nach einer Stunde setzten wir die letzten Schritte auf Eis. Wir stehen am Einstieg zum Stüdlgrat. Die Steigeisen ziehen wir hier aus. Der Grat liegt schnee- und eisfrei vor uns. Kurz bekomme ich kalte Füße. Metaphorisch und real. Ich zweifle, uns über den Grat führen zu können. Werden wir uns überall orientieren können? Habe ich genug Mut, den Vorstieg zu klettern? Ohne Markus meine Angst spüren zu lassen, beginne ich zu klettern.

Über den Stüdlgrat gen Himmel

Den ersten Abschnitt bis zum Frühstücksplatzl überziehen Schutt und grobes Geröll. Nach dem griffigen Marsch über den Gletscher eine krasse Umstellung. Ich setze jeden Schritt mit Bedacht. Wir klettern westseitig im Schatten auf den Kamm des Grates zu. Sicherungspunkte finde ich nur wenige. Zwar halten sich die Schwierigkeiten in Grenzen (bis II UIAA), der Abstand zwischen Gletscher und mir ist dafür beträchtlich angewachsen.

Kurz vor dem Frühstücksplatzl erschwert ein enger Kamin das Weiterkommen. Ich zwänge mich durch die Felsöffnung. Mein Rucksack will nicht mit. Die Stöcke haben sich am Fels verkeilt. Ich zerre an den Schulterriemen und der Kamin spukt mich an seiner Öffnung aus. Die erste schwierige Stelle ist überwunden.

Mal gehend, mal leicht kletternd gelangen wir zum Frühstücksplatzl. Dort genießen wir kurz die Aussicht. Die ersten Sonnenstrahlen treffen hier auf Fels und machen den weiteren Aufstieg umso schmackhafter. Die Schwierigkeit der Route nimmt zu – dafür ist sie nun perfekt mit Bohrhaken und Eisenstangen abgesichert. Wir klettern durch eine Verschneidung, in deren Riss die Hände griffigen Fels zu fassen bekommen. Welch Klettergenuss! Der Leser imaginiere an dieser Stelle einen lauten Juchitzer.

In ähnlicher Schwierigkeit (III) kraxeln wir weiter. Ein markanter Turm, die Kanzel, baut sich vor mir auf. Die Kanzel umklettert man rechts, was ich anfangs nicht recht einsehen will, weil es dort verdammt tief hinab geht. Auf Zehenspitzen balanciere ich über ein schmales Band und bin heilfroh, den nächsten Bohrhaken zu erreichen. Ich klicke eine Exe ein und schieße ein Foto von Markus, der schon neugierig um die Kante lugt. Das Panorama hinter ihm lässt mich kurz innehalten. Wir sind schon so hoch!

Der Grat flacht nach der Kanzel etwas ab. Die Euphoriekurve geht dafür steil nach oben. Die nächste Schlüsselstelle (III) bereits im Blick, steigen wir auf eine große, senkrechte Platte zu, die mit einem Drahtseil versichert ist. Die Platte ist von Blöcken und Rissen gesäumt – Griffe und Tritte genügend, das Drahtseil überflüssig.

Nach der Drahtseil-Passage verläuft die Route direkt am Grat. Tiefblicke zu beiden Seiten sind garantiert und sogar die Bergsteiger am Kleinglockner kann ich erspähen. Wie eine Ameisenstraße verläuft der Normalweg vom Kleinglockner über die Glocknerscharte auf den Gipfel. Die Männchen, Silhouetten vor dem gleißenden Sonnenlicht.

Blick zum Kleinglockner. Dazwischen die Glocknerscharte. Am Grat entlang. Genusskletterei am Stüdlgrat.

Weiter dem Himmel entgegen. Wir nähern uns den interessantesten Stellen (III) der Tour: dem Hangelgrat, der glatten Kante und der kleinen Platte. Die drei folgen direkt aufeinander. Ich suche nach einem möglichst kreativen Weg, die abschüssigen Platten zu überwinden. Meine Liebe zum Stüdlgrat fängt endgültig Feuer. Mit beiden Händen fasse ich die oberste Kante einer senkrecht stehenden Platte. An ihr hangle ich mich Stück für Stück nach links und schwinge mich dann auf ein kleines Plateau, um Markus nachzuholen. Fantastische Kletterei.

Plattenkraxlerei. Kurz vor der Hangelplatte. Hangelplatte.

Ich hangle mich weiter die jetzt nach rechts abschüssigen Platten hinauf. Mit den Füßen steige ich auf Reibung und klicke die nächste Expresse ein. Neben uns erklärt ein Bergführer seinem Kunden, dass wir uns gerade an der „small plate“ befänden. Sein Kärntner Akzent lässt die ohnehin falsche Übersetzung noch witziger klingen.

Nach der kleinen Platte verschwimmt die Route. Ich bin unsicher, wo es lang geht. Folge Spuren nach rechts, finde dort aber keine Bohrhaken. Der Gedanke, dass wir beide gerade ohne Sicherung am Grat herumirren, lässt mich kurz schwach werden. Markus meint, ich solle es mal links um den Turm herum probieren und tatsächlich glänzt mir dort ein silberner Bohrhaken entgegen. Etwas weiter oben entdecke ich die nächste Schlüsselstelle: ein Überhang, an dem ein braunes Hanfseil baumelt.

Gespannt steuern wir darauf zu. Unzählige Schuhsohlen haben den Fels hier poliert. Ich fasse das Hanfseil, ziehe mich hoch und zerre mein Bein über die Felskante. Einige Eisenstifte und ein Fixseil entschärfen die folgende Querung. Die Platte ist trittfrei. Ich trete um die Kante. Die Schwierigkeiten scheinen vorbei zu sein. Ebenso der Grat.

Wir stehen wenige Meter unterhalb des Gipfels. Der Grat vereinigt sich mit dem Haupt des Großglockners, dessen höchsten Punkt dieses wunderschöne Gipfelkreuz schmückt. Fordernd leuchtet es mir entgegen. Ich möge doch zu ihm kommen. Dann trete ich in den Himmel ein.

Am Gipfel des Großglockners

Ich stehe am Großglockner. Am Dach Österreichs. Am höchsten Gipfel meiner Heimat. Mit Gänsehaut am ganzen Körper und Tränen in den Augen. Nicht, weil die Kletterei so schwierig, oder der Anstieg so kräftezährend gewesen wäre. Sondern weil mich die Landschaft ob ihrer Schönheit überwältigt und ich diesen Moment mit jemand ganz besonderem teilen kann.

Wir umarmen uns. Über Markus Schultern hinweg blicke ich bis zu mir nach Hause. Sehe den Dachstein, die Bischofsmütze und das Tennengebirge. Unter uns ein Meer aus Nebel und Wolkenfetzen.

Im Westen ruht der Großvenediger unter einer dicken Schnee- und Eisschicht und im Norden lugt das Wiesbachhorn hinter der Hohen Dock hervor. Davor überzieht die ewige Gletscherwelt der Pasterze das weite Plateau.

Pasterze. Gipfelpanorama. Glücksmoment. Verlauf des Stüdlgrates.

Oft drehe ich mich am Gipfel im Kreis, will die Kulisse in mich aufsaugen. Mehrmals zeichne ich den Verlauf des Stüdlgrates vom Einstieg bis hier hoch mit den Augen nach. Beinahe scheint es surreal, dass wir den Großglockner über diesen Weg erreicht haben. Über die schönste aller Routen auf den Glockner. Das kann ich jetzt unterschreiben.

Eine Zeit lang verweilen wir am Gipfel. Wir warten, bis die meisten Seilschaften abziehen und bald sonnen wir uns einsam unter dem goldenen Kreuz.

Abstieg über den Normalweg

Da der Wetterbericht für den Nachmittag einzelne Gewitter angekündigt hat, machen wir uns an den Abstieg. Er führt uns über den Kleinglockner, das Eisleitl und die Erzherzog-Johann-Hütte zurück zur Stüdlhütte. In leichter Kletterei steigen wir zur Glocknerscharte ab, die zwischen Groß- und Kleinglockner liegt. Vor der Scharte müssen wir in steilem Gelände kauernd zwanzig Minuten abwarten, weil drei Tschechische Seilschaften den schmalen Übergang blockieren. Sie reden viel und klettern wenig. Ich rufe ihnen zu, sie sollen sich beeilen. Drei Tschechen lassen wir noch passieren, bevor wir zur Glocknerscharte abklettern.

Übergang von Groß- zum Kleinglockner. An der Glocknerscharte.

Auf der Scharte steht man wie auf einem schmalen Sims. Zu beiden Seiten stürzen die Felsflanken bis zum Gletscher hinab. Ich mache zwei kleine Schritte und schon ist die Gruselstelle überwunden. An der gegenüberliegenden Seite treffe ich erneut auf Fels. Über eine seilversicherte Felsstufe gelangen wir auf den Kleinglockner.

Erneut haben wir glatte Platten unter den Füßen. Diesmal können wir aber gemütlich drüberspazieren und die Aussicht genießen. Hohe Eisenstangen, die auch im Winter aus dem Schnee ragen, sorgen für Absicherung. Im März hatte der Glockner Vroni und mich an dieser Stelle mit heftigen Windböen abgeschüttelt.

Wir legen unser Seil um die Stangen und erreichen schnell das Eisleitl – eine steile, mit Schnee und Eis gefüllte Rinne, die immer mehr ausapert. Obwohl der Untergrund weich und nass ist, entscheiden wir uns, die Steigeisen anzulegen. So marschieren wir im Zick-Zack auf die Erzherzog-Johann-Hütte zu.

Dort entledigen wir uns der Steigeisen. Wir werden sie heute nicht mehr brauchen. Auch das Seil verstauen wir im Rucksack. Ein Blick auf das Ködnitzkees, das es zurück zur Stüdlhütte zu überqueren gilt, bestätigt: keine Spalten in der Nähe des Routenverlaufs.

Von der Erzherzog-Johann-Hütte bringt uns ein seilversicherter Steig an den Gletscherrand. Der Weg wird oft als Klettersteig ausgewiesen. Auf ein Klettersteigset kann man aber verzichten.

Am Ködnitzkees angekommen, prüfen wir die Beschaffenheit der Gletscheroberfläche. Die Mittagssonne hat sie aufgefirnt. Wir lassen die Steigeisen im Rucksack und rutschen die steilen Hänge des Gletschers auf unseren Schuhen hinab. Drei Stunden nachdem wir vom Gipfel aufgebrochen sind, stehen wir wieder an der Stüdlhütte. Ich ziehe meine Bergschuhe aus und laufe Barfuß über die Terrasse. Herrlich.

Mittlerweile umhüllen Wolken den Gipfel des Großglockners. Beschwingt beginnen wir mit dem finalen Abstieg. Eine Stunde später erreichen wir den großen Parkplatz beim Lucknerhaus.

Wissenswertes zum Stüdlgrat

Die Tour über den Stüdlgrat auf den Großglockner wird normalerweise an zwei Tagen begangen. Flotte Bergsteiger machen die Route auch an einem Tag. Stützpunkt ist die Stüdlhütte auf 2.800 Metern Seehöhe. Material und nicht benötigte Ausrüstung kann man in der Hütte kostenlos in einem Schließfach deponieren.

Die Route überschreitet in ihrer Schwierigkeit nie den dritten Grad und ist eine absolute Paradetour. Ab dem Frühstücksplatzl ist sie gut mit Bohrhaken und Eisenstiften abgesichert, die schweren Passagen entschärfen Fixseile und Tritthilfen. Trotz dieser Einrichtungen sollten sich nur Bergsteiger auf den Stüdlgrat wagen, die mit Bergschuhen sicher im dritten Grat UIAA klettern können. Nicht an jeder schwierigen Stelle kann man auf ein Drahtseil oder künstliche Tritte zurückgreifen. Bei winterlichen Bedingungen wird der Stüdlgrat mit Steigeisen begangen.

Ich empfehle, den Grat am gleitenden Seil zu gehen. Wer von Stand zu Stand sichert verliert zu viel Zeit. Schnelligkeit ist in dieser Höhe ein Sicherheitsfaktor. Wer langsam ist, setzt sich zusätzlichem Risiko aus. Das Klettern am gleitenden Seil setzt genügend alpine Erfahrung voraus. Ein Fehler kann tödlich enden. Im schlimmsten Fall für beide Seilpartner.

Wir haben, um die Folgen eines Sturzes möglichst gering zu halten, an den gefährlichsten Stellen per HMS gesichert.

Ausrüstung

  • Seil (wir haben ein 30m-Halbseil verwendet)
  • Klettergurt
  • 7 Expressen
  • 2-3 HMS-Karabiner pro Person
  • eventuell Tibloc
  • Bandschlinge
  • Helm
  • Steigeisen
  • Stöcke und/oder Pickel für die Gletscherüberquerung und das Eisleitl
  • warme Kleidung und ausreichend zu Trinken

Tourdaten

  • Höhenmeter: 1.800 (davon ca. 500 am Grat)
  • Länge: 17 Kilometer (Auf- und Abstieg)
  • Dauer: 1,5 bis 2,5 Stunden zur Stüdlhütte, 4-5 Stunden von der Hütte zum Gipfel, 3 Stunden Abstieg zurück zur Stüdlhütte