Hilma af Klint, fast unbekannt, Erfinderin der Abstraktion - erstmals umfassende Ausstellung Moderna Museet Stockholm, bis Mai 2013

Hilma af Klint, Pionierin der Abstraktion: Noch immer ist die schwedische Malerin fast unbekannt - dabei ist sie es, die die Abstraktion in der Malerei erfunden hat, vor den Männern wie Kandinsky! Erstmals wird sie in einer umfassenden Ausstellung gewürdigt - in ihrer Heimat, im Moderna Museet (Museum der Moderne) in Stockholm. Ich habe die Ausstellung bereits dort besucht*, obwohl sie im Sommer in einer anderen Fassung auch nach Berlin kommt. Hier mein Bericht mit persönlicher Färbung:

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 Spricht sie mit mir? Kann ich mit dieser Malerin über die Jahrzehnte hinweg ins Gespräch kommen? (Warum ich mir gerade bei dieser Künstlerin, deren abstrakte Bilder biografische Elemente geradezu heraushalten, jene Frage stelle, kann ich nicht erklären.)

Hier sieht sie mich nicht an. Sie blickt nach oben hinter mich, in eine andere Welt, die vielleicht keinen Ort hat, es ist vielleicht eine Innensicht? Ein unmittelbares Gespräch ist so nicht möglich, ich kann - wenn überhaupt - nur über jene "andere Welt" mit ihr ins Gespräch kommen. Ich wünschte mir, mehr von ihrer Persönlichkeit im Foto zu sehen, aber es wird nur wenige Bilder von ihr geben.

Ganz im Gegensatz dazu steht dieses Werk von ihr, das "Altarbild Nr. 1" - ohne biografische Färbung, und doch auf geheimnisvolle Weise eng mit ihr verbunden.(Auch auf einem Presseblatt sind genau diese beiden Bilder nebeneinander gesetzt.)

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Was spricht aus diesem Bild zu mir? Ein Weg, der nach oben-hinten führt - wohin? In die Sonne? (Und damit zu Christus, sagen manche.) Ein breiter Weg mit einer Mittellinie, die von Kreisflächen geziert wird; ein geradliniger Weg, der nur ein wenig Abweichung nach links oder rechts zulässt, ein kleines schwarzes Dreieck am Ende. Vor dem Goldgrund der "Sonne".

Hilma af Klint: Am meisten wird wohl ihr Lebenslauf zu mir sprechen: Geboren wurde sie 1862 in Solna bei Stockholm als viertes Kind einer wohlhabenden Familie. Im Gegensatz zu Edvard Munch etwa war sie nicht Autodidaktin; schon an der Polytechnischen Schule bekam sie Unterricht in Porträtmalerei. Sie gehörte dann zu den ersten Frauen, die an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste Malerei studierten (seit 1862 waren Frauen zugelassen), von 1882 bis 1887, danach wurde ihr ein Atelier im Kungsträdgården zur Verfügung gestellt (dem "Hof der Königsbäume"), wo auch andere KünstlerInnen arbeiteten und sich trafen und eine Ausstellungshalle zur Verfügung stand. Sie begann mit genauen Pflanzenbildern und Landschaften; einige Beispiele werden in der Ausstellung gezeigt. Und sie ging zu spiritistischen Sitzungen, bald schloss sie sich mit anderen Frauen zur "Gruppe der Fünf" zusammen - sie zeichneten wie ein Medium, was ihnen eine höhere Welt eingab, "automatische" Bilder; auch hiervon Beispiele in der Ausstellung. 

 Bildbeispiele kann ich dazu nur andeutungsweise im aufgeschlagenen Katalog zeigen, da ich keine Berechtigung habe, einzelne Bilder wiederzugeben. Die "automatischen Bilder" sind mit 1903 und 1904 datiert, die Pflanzenbilder mit "1890er Jahre". (Die Bilder können mit einem Mausklick vergrößert werden.)

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Mehr und mehr löste sie sich um die Jahrhundertwende sowohl von der naturgetreuen Darstellung (möglichst genau so, wie es ist) als auch von der akademischen Ausbildung. Die Abkehr von der Abbildung der wirklichen Welt lässt sich, wie bei anderen KünstlerInnen, auch in den Zusammenhang des Zeitgeistes stellen: Durch Naturwissenschaften und Technik (Röntgen, Hertz, drahtlose Telegrafie z.B.) wurde vielen Menschen deutlich, dass es eine Wirkwelt außerhalb des Sichtbaren (unmittelbar Wahrnehmbaren) gibt. Die zu erkunden, haben sich etliche KünstlerInnen seinerzeit vorgenommen. So begann auch Hilma af Klint ihre Reise in die Innenwelt, was zugleich heißt: Anknüpfung an höhere (geistige) Welten.

Zwischen 1906 und 1915 schuf sie ihre zentrale Werkgruppe, die oft großformatigen "Tempelbilder", 193 insgesamt sollten es werden. Die Grundidee bestand darin, dass jenseits der dualistischen sichtbaren Welt "alles eins ist", alles miteinander zusammenhängt. Selber sagt sie dazu: "Die Bilder haben sich durch mich gemalt, ohne jede Vorskizze und mit großer Kraft. Ich hatte keine Ahnung, was die Bilder darstellen sollten, und dennoch arbeitete ich rasch und mit großer Sicherheit, ohne einen einzigen Pinselstrich zu ändern."  Diese Bilder markieren zugleich den Schritt in die Abstraktion! Die ersten "Tempelbilder" (111 in unterschiedlichem Format) enstanden von November 1906 bis April 1908. In ihnen finden sich oft noch Formen aus der Natur. Danach, bis 1912, stellte sie die Arbeit eine Zeitlang ein und studierte das Christentum und Rudolf Steiners Literatur über das Rosenkreuzertum. Als sie ab 1912 (bis 1915) die Arbeit an den "Tempelbildern" wieder aufnimmt, verwendet sie eher christliche Symbole, und die Abstraktionen bekommen einen mehr geometrischen Charakter. 

Noch immer bin ich bei ihrem Lebenslauf. Er ist vom Werk nicht zu trennen, aber vieles habe ich hier unerwähnt gelassen. Immer hat sie auch geschrieben, die Dokumente sind kaum ausgewertet (einige wenige Seiten lassen sich im Katalog betrachten). So hat sie 1917-18 einen Text von über 1200 Seiten mit der Überschrift "Studien zum Seelenleben" verfasst. 1920 muss ein außerordentlich schöpferisches Jahr für sie gewesen sein, es entstehen viele kleine Ölgemälde, zum Beispiel über die Weltreligionen. In dieser Zeit macht sie mehrere Reisen nach Dornach in der Schweiz zum Goetheanum und spricht auch mit Rudolf Steiner. Durch seinen Einfluss kommt sie weg von den geometrischen Darstellungen - nach zweijähriger Pause malt sie ganz andere Bilder: in fließenden Wasserfarben, auf die Natur bezogen, im Versuch, die geistige Dimension darzustellen. "Beim Betrachten (beim Anblick) von Blumen und Bäumen" heißt eine Serie, von der Beispiele in der Ausstellung zu sehen sind. So bringt sie mit über 60 Jahren noch einmal eine Wende in ihre Kunst.

Ein Beispiel dazu kann ich wiederum nur im aufgeschlagenen Katalog zeigen - die Darstellung einer "Getreideähre" (so der Titel) mit ihrem geistigen Kraftfeld aus der Serie "Beim Betrachten von Blumen und Bäumen", Kat. Nr. 186.

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Fortsetzung bitte über die Queradresse aufrufen!

Über die rund zwanzig Jahre bis zu ihrem Tod 1944 erfahre ich praktisch nichts. Ihre letzten Gemälde sollen 1941 entstanden sein (heißt es hier). Sie hinterlässt über 1000 Gemälde und Arbeiten auf Papier. "Zu Lebzeiten untersagte sie jegliche Ausstellung ihrer Werke und verfügte testamentarisch, dass sie erst 20 Jahre nach ihrem Tod öffentlich gezeigt werden durften. Eine große Zahl der Arbeiten wurde der Öffentlichkeit für längere Zeit nicht bekannt und blieb bei ihrem Neffen Erik af Klint mehr als vierzig Jahre gut gelagert. Anfang der 1980er Jahre machte dieser den Bestand für wenige Kunsthistoriker und Theologen zugänglich. . Erst seit 1986 wurden in verschiedenen Ausstellungen einige Teile ihres Nachlasses gezeigt. Schließlich kamen die Werke in die Obhut der von Hilma af Klint ins Leben gerufenen Stiftung Stiftelsen Hilma af Klints Verk in Stockholm, die das Gesamtwerk verwaltet und veröffentlicht. Nach Willen der Stifterin darf keines ihrer Werke verkauft werden." (Zitat von Wikipedia) Warum sie das Zeigen ihrer Bilder für 20 Jahre untersagt, wird in dieser Beschreibung nicht deutlich. Der Grund ist: Sie hielt die Zeit noch nicht für reif dafür. Sie war überzeugt davon, die Welt würde ihre (abstrakten) Bilder erst in 20 Jahren oder später verstehen.

Was mich berührt an ihrem Lebenslauf, möchte ich so zusammenfassen: Bald nach der Ausbildung geht sie mit starkem Willen ihren Weg. Sie findet immer wieder die Kraft zur Wandlung. Sie hat den Mut, die Abstraktion ohne Vorbilder zu "erfinden" und nimmt keine Rücksicht auf die Meinung anderer (insbesondere männlicher) Menschen. Ihre Anknüpfung an eine übersinnliche - geistige Welt führt nicht zu einer Art Abhängigkeit, im Gegenteil: auch hier findet sie ihren individuellen Weg, der in die Zukunft gerichtet ist. Entsprechendes gilt für die Begegnung mit der Anthroposophie. Sie ist sich des Zukunftscharakters ihrer Werke bewusst und hat deshalb auch den Mut, sie nicht zu verkaufen und für Jahrzehnte gegenüber der Öffentlichkeit zurückzuhalten. - Ich schließe noch einige Bildbeispiele an, mit knappen Bemerkungen.

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In vielen Bildern Hilma af Klints kommen Polaritäten zum Ausdruck. Beide Beispiele sind aus derselben Serie "Der Schwan" (Nr. 1 und Nr. 17) - vom stilisiert Gegenständlichen zur reinen Abstraktion. Polaritäten, die sie überwinden möchte! Diese Zukunftsaufgabe der aktiv-schöpferisch erreichten Aufhebung der Polaritäten (des dualen Denkens) kann sie schon in derselben Serie "Schwan" zur Darstellung bringen - wie diese beiden Beispiele zeigen (Nr. 9 und Nr. 10), die ich als ausgesprochen ausgewogen und schön empfinde.

... und die ich wiederum im aufgeschlagenen Katalog zeige ...

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Oft taucht in Hilma af Klints Bildern die Form der Spirale auf - wobei immer wieder die Erinnerung an Formen der Natur (Schnecken, Tintenfische, Ammoniten ...) hervorgerufen wird, wie im Beispiel aus der Serie "Evolution" (Nr. 7). Warum wohl? Dazu kommen mir viele Gedankenbilder: die Ent-Wicklung, das Ein- und das Ausrollen, die Annäherung und die Entfernung, die Öffnung in die Umwelt und Gemeinschaft aus dem geschlossenen (punktuellen) Raum heraus, die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft.

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Betritt mensch die Ausstellung, fällt der Blick zuerst auf die linke Wand mit sehr großen Bildern, der Serie "Die zehn Größten" von 1907, die nach Lebensaltern geordnet sind, von der Kindheit bis zum Alter. In diesem Beispiel aus der Jugend (Nr. 3) sind ebenfalls Spiralformen in vielfältiger Abwandlung ein wichtiges Motiv.

Hak104Ich komme auf die Ausgangsfrage zurück: Spricht sie zu mir? Kann ich mit ihr über die Jahrzehnte hinweg ins Gespräch kommen? Meine Antwort ist: Ja - wenn ich respektvoll anerkenne, dass sie für die Zukunft gearbeitet hat und auch unsere Zeit wohl noch nicht reif genug ist für ihre Zukunftskeime, sie wird also auch für unsere Zukunft weiter wirken. Ihre wichtigste Botschaft ist - für mein Empfinden - die Überwindung der Polaritäten (was auch heißt: des naturwissenschaftlichen Dualismus, nach üblichem Selbstverständnis der Naturwissenschaften). Die heute überall erkennbaren Risse und Aufbrüche in der Gesellschaft und bei einzelnen Menschen sind eine Fortführung dessen, was sie - als Frau! - mit angestoßen hat und durch ihre Kunst weiter wirken kann. Ich wünsche den vielen Menschen, die jetzt ihre Werke sehen werden, dass sie sich mit Tiefenwirkung davon berühren lassen. 

Noch ein paar allgemeine Bemerkungen: Die Ausstellung ist klug gestaltet - große Ein- und Überblicke sind verbunden mit kleinen Extraräumen, in denen spezielle Themen (z.B. ihre frühen naturalistischen Bilder) gesondert in Ruhe betrachtet werden können. Der beeindruckendste Raum mit den für viele Menschen wohl eindrücklichsten drei Bildern, den "Altarbildern" auf schwarzem Untergrund (eines davon ist oben an zweiter Stelle wiedergegeben), ist so inszeniert, dass es möglich ist, sich meditativ zu versenken. In keinem deutschen Museum habe ich bisher so viele, auch kleine, aktive Kinder gesehen; dafür wird vom Moderna Museet viel getan. Das größte Verdienst der Museumsmannschaft aber dürfte die immense Forschungsarbeit sein (im Archiv wurden viele Werke erschlossen und konserviert, die seit Jahrzehnten kein Mensch angerührt hat). Von den bis 1200 Werken kann in der Ausstellung nur ein Bruchteil gezeigt werden: 230 Gemälde und Arbeiten auf Papier. Das Engagement und tiefe Verständnis der Kuratorin Iris Müller-Westermann, zusammen mit ihrer Assistentin Jo Widoff, wird überall spürbar - auch in dem Interviewfilm, der im Vorraum der Ausstellung gezeigt wird und den ich ganz am Schluss hier einfüge. Die Ausstellung ist noch bis zum 26. Mai in Stockholm zu besichtigen und später in abgewandelter Form in Berlin (Hamburger Bahnhof) und in Malaga, Andalusien, Spanien (Picasso-Museum). 

Ganz zum Schluss noch ein persönliches Wort zum Quartier in Stockholm: Wer immer eine Unterkunft in Stockholm sucht und auch privat wohnen mag, dem empfehle ich wärmstens Ullas "Townhouse in Lidingö". Ausgesprochen ruhig und dennoch ist das Zentrum in 20 bis 30 Minuten zu erreichen. Derzeit 46 Euro pro Person und Nacht mit Frühstück. Ulla ist erreichbar über [email protected]

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Text: Dr. Helge Mücke, Hannover. *Die Ausstellung habe ich zusammen mit Cordula Molthan besucht, für deren anregende und partnerschaftliche Begleitung ich sehr danke. - Die Bilder sind teils zur Verfügung gestellte Pressefotos (nicht zur freien Verfügung), teils eigene Bilder - von oben nach unten: Porträtt av Hilma af Klint © Fotograf okänd (Porträt Hilma af Klint, Fotograf unbekannt); Hilma af Klint: Altarbild, nr 1, grupp X, serie Altarbilder, 1915, © Stiftelsen Hilma af Klints Verk, foto Albin Dahlström/Moderna Museet; Katalogseiten 12 und 13, Bilder von 1903, Foto: Helge Mücke; Katalogseiten 244 und 245, Bilder der 1890er Jahre, Foto: Helge Mücke; Katalogseite 255, Bild von 1922, Foto: Helge Mücke; Hilma af Klint: Svanen (Der Schwan), nr 1, grupp IX/SUW, serie SUW/UW , 1915 © Stiftelsen Hilma af Klints Verk/Photo: Moderna Museet, Albin Dahlström; Hilma af Klint: Svanen (Der Schwan), nr 17, grupp IX/SUW, serie SUW/UW, 1915 © Courtesy Stiftelsen Hilma af Klints Verk. Foto: Albin Dahlström/Moderna Museet; Katalog S. 134 und 135, zwei weitere Bilder aus der Serie "Schwan" (Nr. 9 und 10), Foto: Helge Mücke; Hilma af Klint: Evolutionen (Die Evolution), nr 7, grupp VI, serie WUS/Sjustjärnan (Siebenstern), 1908 © Stiftelsen Hilma af Klints Verk, foto Albin Dahlström/Moderna Museet; Hilma af Klint: De tio största (Die zehn Größten), nr 3. Ynglingaåldern (Jugendalter). Ur: Grupp 4, 1907 © Courtesy Stiftelsen Hilma af Klints Verk. Foto: Albin Dahlström/Moderna Museet; danach zwei Eindrücke von der Ausstellung - ein Blick vom Eingang an die linke Wand mit den "Zehn größten (Bildern)" und ein Einblick in die Kammer mit den naturalistischen frühen Bildern -, beide Fotos Helge Mücke, Hannover; und last not least: Curator Iris Müller-Westermann och assisterande curator Jo Widoff, 2013 (Kuratorin Iris Müller-Westermann und Assistentin Jo Widoff) © Åsa Lundén/Moderna Museet. Das Video stammt von You Tube.(Es ist hier leider rechts etwas angeschnitten, aber es kann über den Titel ganz oben bei You Tube aufgerufen werden und ist dann in vollem Format sichtbar.) Dem Museum danke ich für die Unterstützung. - Dieser Artikel wurde unter dem 21.3. 2013 bereits einmal veröffentlicht und wird hier wiederholt, weil er beim ersten Mal nicht in den Feeds erschien.

 


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