Iwan Turgenjew meinte einmal: „Man müsste das Leben so einrichten, dass jeder Augenblick bedeutungsvoll ist.“ Das hört sich leicht an. In Wirklichkeit ist es aber eine sehr hohe Kunst, bei allem wirklich dabei zu sein, was ich tue, erlebe, denke, fühle und wahrnehme, bei allem stets wach und aufmerksam zu sein.
1995 besuchte ich ein Seminar zu den Themen Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheit. Der Redner, dessen Muttersprache Englisch war, brachte sich immer wieder mit dem Satz „Here’s your present!“ auf Kurs, wenn er feststellte, dass er den Faden verlor. Damals hat irgendetwas in mir „Klick“ gemacht. Present? Bedeutete das neben Gegenwart nicht auch Geschenk? Stimmt. Und auch im Deutschen bezeichnen wir ein Mitbringsel ja als kleine Aufmerksamkeit. So weist schon die Sprache deutlich darauf hin, was für eine große Gabe es ist, im Hier und Jetzt leben zu können.
Wenn ich überlege, was es heißt, in der Gegenwart zu leben und mich vollkommen dem Augenblick hinzugeben, dann erinnere ich mich an meine Kindheit. Damals konnte ich eine ganze Weile am Fenster sitzen und den lautlos fallenden Schneeflocken zusehen. Ich konnte zehn Minuten lang einen Käfer beobachten und dabei alles andere vergessen: Ich war fasziniert von der Form, der Farbe und den Bewegungen des Käfers. Sobald er sich verkrochen hatte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes.
Ich bin froh, dass das Kind in mir noch so lebendig ist und ich solche Momente auch heute oft erlebe, denn es gibt für mich kaum etwas Beglückenderes, als von einer augenblicklichen Beschäftigung so fasziniert zu sein, dass ich das Gefühl für Zeit und Raum verliere. Das kann im Konzert sein, wenn ich durch Wälder wandere oder mich mit Menschen unterhalte, mit denen ich auf einer Wellenlänge bin. Das kann auch beim Zeichnen und Malen sein. Vor allem erlebe ich solche Momente beim Schreiben und Lesen.
Wie kannst Du Dich selbst immer wieder daran erinnern, achtsam zu sein?
Natürlich gelingt es uns nicht, ständig achtsam zu sein. Deshalb habe ich den Teilnehmern des Kurses in Schritt 1: Achte auf Dich! empfohlen, immer wieder ganz bewusst Momente des Innehaltens in ihren Tagesablauf einzubauen. Und heute möchte ich Dir ein kleines Hilfsmittel vorstellen, das mir selbst immer wieder als Wegweiser dient, um ins Hier und Jetzt zurückzufinden.
Schon vor einigen Jahren habe ich mir folgende Fragen aufgeschrieben, die ich immer bei mir trage. Anfangs stellte ich den Wecker meiner Armbanduhr so ein, dass er über den Tag verteilt jede Stunde piepste, dann nahm ich den Zettel zur Hand, lauschte in mich hinein und schaute mich auch in der Welt um, die mich umgab. Inzwischen sind diese Fragen mir in Fleisch und Blut übergegangen und ich brauche meine Notizen nur noch ganz selten. Doch für alle Fälle habe ich diese Fragen immer dabei, heute sogar zeitgemäß auf dem Smartphone, das mich auch stündlich ans Pausemachen erinnert.
Vielleicht ist dieser „Spickzettel“ auch für Dich hilfreich. Dann kannst Du ihn Dir gerne hier als PDF-Datei herunterladen.
Fragen an den Augenblick
Folgende Fragen helfen mir dabei, bei allem, was ich tue, so wach wie möglich zu sein und mit meiner Aufmerksamkeit immer wieder in den gegenwärtigen Augenblick zurückzukehren:
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Lebe ich?
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Fühle ich mich wirklich lebendig?
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Bin ich wach? Bin ich aufmerksam? Bin ich konzentriert?
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Wo bin ich? Bin ich dort, wo ich sein will? Bin ich hier?
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Wo bin ich mit meinen Gedanken? Im Jetzt?
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Was tue ich?
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Was fühle ich?
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Was geht in mir vor?
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Woran denke ich?
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Was stelle ich mir vor?
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Was geschieht um mich herum?
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Was sehe ich? Was höre ich?
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Was rieche ich? Was schmecke ich?
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Was spüre ich?
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Mit welchen Menschen bin ich zusammen? Was ist daran schön? Was gut? Was kann ich daran lieben?
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Was macht diesen Augenblick so wertvoll?
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Was denke ich darüber? Was weiß ich darüber? Stimmt das? Wie kann ich mehr erfahren? Was bedeutet es? Wo steckt der Witz? Wie lautet die Botschaft? Was kann ich daraus lernen? Bringt es mich weiter?
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Welche Fragen wirft es auf? Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Wozu? Warum? Warum nicht?
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Was sagt meine innere Stimme? Habe ich verstanden?
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Was sage ich darüber? Sollte ich mir das notieren?
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Habe ich schon danke gesagt? Wofür kann ich dankbar sein? Wem kann ich dankbar sein?
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Wie fühle ich mich jetzt? Bin ich glücklich? Ja?!
Findest Du diese Liste nützlich? Sollte ich Deiner Meinung nach noch Fragen ergänzen oder streichen? Fallen Dir noch andere Hilfsmittel ein? Dann schreibe mir bitte einen Kommentar. Vielen Dank für Deine Hilfe!
Ich wünsche Dir einen achtsamen Tag,
Dein Jürgen