Drehtür – Katja Lange-Müller
Nach jahrelanger Arbeit als Krankenschwester wird die 65-jährige Asta Arnold von ihren Kollegen rausgemobbt und abgeschoben. Sie würde nur noch dastehen, rauchen und vor sich hinträumen, sagen sie und buchen ihr ein One-Way-Ticket zurück nach Deutschland. Asta, die die letzten 22 Jahre in Managua und anderen weit entfernten wie Djerba, Ulan Bator für Hilfsorganisationen gearbeitet hat, fast ihr ganzes Leben geholfen hat, weiß sich nun selbst nicht mehr zu helfen. Kettenrauchend steht sie vor der Drehtür am Münchner Flughafen. Sie ist verloren, weiß nicht wohin und kann sich nur noch über die deutsche Sprache, ihre Muttersprache, wundern.
„Blitzgewitter, denkt Asta, das Wort ist mir lange nicht mehr, jetzt aber tatsächlich blitzartig eingefallen. Artiger Blitz? Bullshit.“ (S. 7)
Die Drehtür wird zur Transitzone. Mit jeder Runde, die sie dreht, werden Geschichten, an die sich die Protagonistin erinnert, zu Tage gefördert. Menschen, die in Astas Blickfeld geraten, erinnern sie an Menschen, die ihr einst begegnet sind. Und immer sind es Situationen, in denen es um Hilfe geht.
„Zu helfen weckt ein seltsames Verlangen in dir, aber eines, das gestillt werden kann, so betörend, dass du es wieder tun willst und wieder und immer wieder. Es mag wohl auch tröstlich sein, und nicht nur für den Hilfsbedürftigen, doch mehr noch ist es eine Herausforderung, durchaus im sportlichen Sinne des Wortes. Wenn du zum Helfen berufen oder eben ermächtigt bist, ist es tröstlich und herausfordernd, jemandem zu begegnen, dem es schlechter geht als dir selbst, am besten viel schlechter. Augenblicklich durchströmt dich warm ein Gefühlsgebräu, dessen Hauptbestandteile Mitleid und Tatendrang sind – und Verachtung, eine Überlegenheit heischende Verachtung, für die sich mancher, ob nun Profi- oder nur Laienhelfer, heimlich auch noch selbst verachtet.“ (S. 37)
Der Koch des Airport-China-Restaurants erinnert sie an einen jungen Asiaten, den Asta als junge Krankenschwester 1967 in Berlin mitten in der Nacht auflas. Er hatte furchtbare Zahnschmerzen, wie sich nach wenigen Worten, oder eher Zeichen, herausstellte. Asta nimmt ihn mit in ihre Wohnung, verarztet ihn mit Schmerztabletten und Alkohol. Am nächsten Tag ist der Asiate verschwunden, jedoch stehen Männer der nordkoreanischen Botschaft vor der Tür und bedanken sich mit einem Strauß Blumen.
Die Kassiererin im Supermarkt ähnelt der ehemaligen Schwesterkollegin Tamara Schröder, die sich einmal als Schriftstellerin versuchte, und aufgrund ihrer Geschichte, die sie bei einem Treffen mit indischen Autoren während der Frankfurter Buchmesse vortrug, nach Kalkutta eingeladen wurde. Die Einladung hat nie erahnte Folgen für Tamara. Bei ihrer Lesung wird sie mit hunderten Frauen konfrontiert, die schrecklich verstümmelt wurden, weil sie zu wenig Mitgift in die Ehe brachten oder ihren Männern keinen Sohn schenkten. Tamara soll, zurück in Deutschland, 150 Nähmaschinen beschaffen und nach Kalkutta schicken, um diesen Frauen ein halbwegs normales Leben mit Arbeit zu ermöglichen. Dank ihres Helfersyndroms meistert sie diese Aufgabe, um später spurlos zu verschwinden.
Auch Asta selbst leidet am Helfersyndrom, worauf nicht nur ihr Beruf schließen lässt. Im Urlaub mit ihrem Freund Kurt verhilft sie einer schwangeren Katze zu Futter, versorgt sie bis zur Geburt ihrer Kätzchen. Dass sie Kurt dabei zur Weißglut bringt, stört nicht, wichtig ist es zu helfen. Die frisch gebackene Katzenmama dankt es mit ihrem Verschwinden.
Es sind solche und weitere Episoden, die in Katja Lange-Müllers Drehtür noch lange nachhallen und im Gedächtnis bleiben, als wäre man diesen Menschen selbst begegnet. Die Autorin, die selbst in jungen Jahren als Hilfsschwester in einer Psychiatrie arbeitete, verbindet in allen das Motiv des Helfens, nie zieht sie jedoch darüber her oder urteilt. Vielmehr stellt sie Fragen danach, was der Wille zu helfen mit Menschen macht und warum wir das Bedürfnis haben zu helfen. In einem FAZ-Interview sagt Lange-Müller: „Ich habe viel über das Helfen nachgedacht als letzte Domäne des unreflektiert Guten. Gut ist ja nicht einfach gut. Das hatte ich schon bei meinem Roman Böse Schafe: die guten Guten, die bösen Bösen, die bösen Guten und die guten Bösen.“ Sarkasmus und Melancholie liegen in Drehtür nah beieinander, denn alles Helfen der Figuren hilft nicht wirklich.
Katja Lange-Müller: Drehtür. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2016. 224 Seiten. 19,00 Euro.