Freiwilligenarbeit ist eine milliardenschwere Tourismus-Branche. Gastautorin Anne wollte lieber auf eigene Faust helfen und ging für 4 Monate nach Nepal.
Waisenjunge in Kathmandu, Nepal - Foto: Anne
Volunteering wurde zu Voluntourismus, z.B. als Pauschalreise: 1 Woche Schule bauen, 1 Woche Strand, All Inclusive für 3.000 €. So eine „Freiwilligenarbeit“ hilft nur dem Facebook-Bilderalbums des Volontärs und dem Konto der Freiwilligenagentur.
Was, wenn eine Volontärin sich stattdessen mehrere Monate Zeit nimmt um in einem Entwicklungsland Gutes zu tun? Anne vom Reiseblog Reisefroh ist aus diesem Grund 2014 nach Nepal geflogen und schildert in diesem Gastbeitrag ihre Erfahrungen:
„Ich bin hier hergekommen um zu helfen, doch eigentlich befinde ich mich viel mehr auf einer Reise zu mir selbst…“
Diese Worte schrieb ich in mein Tagebuch als ich 2014 insgesamt vier Monate in Nepal verbrachte.
Wie so viele wollte auch ich etwas Gutes tun und gleichzeitig meinen Lebenslauf und meinen Erfahrungsschatz um einige Monate „Freiwilligenarbeit“, neudeutsch „Volunteering“, bereichern.
Doch aus der Hilfe zur Selbsthilfe wurde Hilfe zur Selbstfindung. Meiner Selbstfindung.
Anne mit Waisenkindern in Kathmandu, Nepal - Foto: Anne
Voluntourismus statt Volunteering
Als ich 2014 nach einem geeigneten Projekt recherchierte, fiel mir die erschreckend große Anzahl an Reise-Anbietern auf. Statt seriöser Projekte fand ich All-inklusiv-Abenteuer für junge Erwachsene zu horrenden Preisen.
„Für Anleitung, Betreuung, Gruppendynamik und Verpflegung sorgt das lokale Team unserer Partnerorganisation“ und gleichzeitig, so verspricht das Unternehmen, wird Dein Lebenslauf „durch einen spannenden Baustein erweitert“.
- Auslandserfahrung sammeln
- Lebenslauf polieren
- gut gemeinte Entwicklungshilfe leisten
Die Tourismus-Branche hat diese Bedürfnisse und den Trend junger Menschen aus westlichen Gesellschaften längst erkannt und prompt gelöst:
Aus Volunteering wurde Voluntourismus.
Anne in Kathmandu, Nepal - Foto: Anne
Voluntourismus ist milliardenschwer
Eine gemeinsame Studie von Brot um die Welt, akte und ECPAT Deutschland e.V. bestätigt diesen Eindruck. Das Geschäft mit „dem guten Gefühl“ boomt. Von 23 zufällig ausgewählten „Voluntourismus-Anbietern“ sind 20 kommerzielle Reiseveranstalter.
Der Umsatz in diesem Sektor wird auf mehrere Milliarden Euro jährlich geschätzt.
Diese Organisationen konnte und wollte ich einfach nicht unterstützen. Und gleichzeitig war ich überzeugt: Ich kann und möchte doch helfen, also muss es einen Weg geben…
Helfen will gelernt sein
Heute weiß ich: Ohne eine einigermaßen klare Vorstellung über die Art und Umsetzung der mysteriösen „Hilfe“, kann eine sinnvolle Unterstützung der Hilfsbedürftigen vor Ort gar nicht nachhaltig funktionieren. Man braucht einen Plan.
Man muss sich überlegen: Was kann ich eigentlich und wie können andere von diesem Wissen profitieren? Und was verstehen wir eigentlich konkret unter „sinnvoller“ (Entwicklungs-)Hilfe?
Ich könnte wetten: Die meisten jungen Volontäre machen sich vorab kaum Gedanken darüber, so auch ich damals…
Kathmandu, Hauptstadt des Entwickungslandes Nepal
Alternativen zum Massen-Voluntourismus
Ich habe wochenlang recherchiert und es hat wirklich Ewigkeiten gedauert bis ich mich durch den Dschungel der Anbieter gewühlt habe und die gut positionierten Schlagwörter der Jugend-Freizeit-Anbieter auf Google umgehen konnte.
Letztendlich habe ich einen winzigen Verein gefunden der ein Waisenhaus in Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal, unterstützt.
Dieses Projekt klang endlich vielversprechend! Seriös, unkommerziell und familiär. Und damals für mich ganz wichtig: Da der Verein monatlich Geld an das Waisenhaus für Miete, Essen und die Schule der Kinder bezahlte, konnte ich dort kostenlos wohnen und essen.
Perfekt für ein Abenteuer über das man später viel Spannendes erzählen konnte, das aber eigentlich gar nicht mal so spannend war.
Strahlende Kinderaugen im Waisenhaus in Kathmandu - Foto: Anne
Waisenhaus in Kathmandu
Der Grund? In dem Waisenhaus wurden acht zuckersüße, sehr gut erzogene Kinder von einem nepalesischen Geschwisterpaar in Vollzeit betreut. Das Heim war freundlich, farbenfroh, sauber und den Kindern ging es prima. Sie hatten auch Zugang zu einer Schule, in der sie teilweise sogar auf Englisch unterrichtet wurden.
Und genau das war der springende Punkt: Weder die Kleinen noch das Waisenhaus hatten irgendeine Form von Hilfe vor Ort nötig. Ihnen ging es – vor allem im Vergleich zum nepalesischen Durchschnitt – blendend!
Die Kinder waren den ganzen Tag in der Schule und der Haushalt war mit drei Erwachsenen in 15 Minuten erledigt. Statt zu helfen war mir… stinklangweilig! Das hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.
Nach ungefähr 10 Tagen begab ich mich schließlich auf die Suche nach einem neuen sinnvolleren Projekt, dieses Mal in das etwas ruhigere Pokhara im Westen Nepals. (Anm. flocblog: bekannt als Ausgangspunkt des Annapurna-Trek)
Waisenkinder: Angebot und Nachfrage
Es ist leider nur selten so, dass es den schätzungsweise 15.000 Kindern in nepalesischen Waisenhäusern (Stand vor dem Erdbeben im April 2015!) so gut geht wie in diesem Fall. Einheimische erzählten mir, dass Einrichtungen manchmal bewusst arm gehalten werden um Mitleid und Spendenwillen zu erzeugen.
Auch die Kinderhilfsorganisation UNICEF ist besorgt über einen „Waisenhaus-Aktivismus“. Um zahlende Helfer, Spender und adoptionswillige Familien anzulocken werden Kinder manchmal sogar bewusst von ihren Familien getrennt und in Waisenhäuser gebracht.
Nepalesisches Mädchen in der Kita in Pokhara - Foto: Anne
Kindertagesstätte in Pokhara
Für mich stand fest: Kein Waisenhaus mehr. Stattdessen wollte ich an den Ort gehen, an dem die Kinder die meiste Zeit des Tages verbringen: die Schule.
Meine Projektsuche in Pokhara war erfolgreich. Ich hatte schnell etwas gefunden das fabelhaft klang: Eine Kindertagesstätte in die arme nepalesische Familien ihre Kinder kostenlos zur Betreuung geben konnten um währenddessen etwas Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Neues Projekt, neues Glück. Die Aufregung war riesig und ich fühlte mich wie an meinem ersten Schultag. Angekommen schauen mich die Kinder mit großen Augen an und auch ich habe große Augen als ich die Kleinen das erste Mal sehe. Viele von ihnen tragen zerfetzte, dreckige Kleider und wirken sehr arm.
Etwas unsicher entschließe ich mich erst einmal dazu, das zu tun wofür ich eigentlich gekommen bin: Um mit den Kleinen zu spielen. Ehrlich? War ich ernsthaft nach Nepal gekommen um mit Kindern zu spielen..? Hier war ich also, als studierte BWLerin, inmitten einer Horde kleiner Kids. Und vielleicht musste ich erst so weit reisen um zu lernen, dass „in einem Entwicklungsland mit Kindern arbeiten“ viel spannender klingt als es ist.
Doch schon nach fünf Minuten das Handtuch werfen? Das kam nicht in Frage! Und so beschloss ich mich erst einmal in den neuen Alltag einzuleben.
See von Pokhara, Nepal
Alltag als Volontärin
Die Wochen vergingen und ich genoss jeden Augenblick in Pokhara. Denn ich war hier nicht mehr nur Tourist, sondern wurde zu einem Teil dieser Stadt. Ich gehörte irgendwie dazu und das sahen auch die offenen, freundlichen und überaus toleranten Nepalesen so.
Neugierig wie sie sind brauchte ich morgens für die 500 Meter, die mein Hostel von der Kindertagesstätte trennten, ungefähr eine halbe Stunde. Abends oft noch viel länger, denn dann hatte ich Zeit um mir ihre spannenden Geschichten anzuhören.
Um so länger ich in Pokhara war, desto mehr öffneten sie mir ihre Herzen und Türen. Ich wurde eingeladen zu Geburtstagen, Festen und an manchen Tagen saßen wir auch einfach nur so zusammen und haben stundenlang diskutiert und erzählt. Ich bekam tiefe, ehrliche und auch erschütternde Einblicke in das nepalesische Leben.
Von Helferin zur Geholfenen
Und während für die Nepalesen diese Geschichten Alltag sind, fiel es mir schwer die ganzen Eindrücke zu verarbeiten. Denn so weit entfernt von Freunden und Familie hatte ich niemanden mit dem ich mich wirklich austauschen konnte. Ich merkte, wie sich mein gesamtes Weltbild und meine Persönlichkeit zunehmend veränderten.
Aus meiner naiven ersten Idee der „Hilfe zur Selbsthilfe“ wurde so die Hilfe zur Selbstfindung…
Konnte ich den Kindern in dieser Zeit wirklich etwas beibringen, was sie nicht ohnehin durch eine nepalesische Tagesmutter (und in ihrer Landessprache!) gelernt hätten? Heute glaube ich eher, dass sie es waren, die mich mehr gelehrt haben als ich ihnen jemals hätte beibringen können.
Essen zubereiten in der Kita in Pokhara - Foto: Anne
Annes Fazit
Im Nachhinein würde ich einiges anders machen und vor allem versuchen mein Wissen aus meiner Sicht „sinnvoller“ einzubringen. Klar, mit den Kindern Zeit zu verbringen und zu spielen war auch eine „sinnvolle“ und vor allem sehr schöne Tätigkeit, aber nichts wofür ich ausgebildet wurde.
Trotz dieser Erkenntnis bereue ich meinen Aufenthalt nicht und werde keinen einzigen Augenblick in Pokhara jemals wieder vergessen. Denn ich habe so viel gelernt über Nepal, seine tief verwurzelten Traditionen und seine stolzen Bewohner.
Aber noch mehr habe ich in dieser Zeit über mich selbst gelernt. Und dafür bin ich dankbar.
Auch wenn ich im Endeffekt in unserem westlichen Verständnis nicht „klassisch“ helfen konnte, so war es doch immerhin besser als nur darüber zu reden, zuzuschauen oder schlimmer noch: Gar nichts zu tun!
Über Gastautorin Anne
Anne Duchstein ist nach der Freiwilligenarbeit in Nepal Backpacking gegangen. Danach konnte sie es kaum erwarten wieder loszuziehen.
Heute lebt sie ihren Traum: Eine Weltreise ohne Rückreisedatum! Sie hat ihren Job gegen die Freiheit getauscht und ihre Wohnung gegen einen Rucksack.
Auf ihrem Reiseblog reisefroh.de berichtet sie seitdem von unterwegs über all die besonderen Momente, für die es sich zu reisen lohnt.
Du kannst ihr auf Facebook, Instagram und Youtube folgen!
Was sind Deine Gedanken zum Thema Freiwilligenarbeit im Ausland? Wo siehst Du die Grenze zwischen sinnvollem Volontariat und kommerziellem Voluntourismus?
Anne freut sich auf Deinen Kommentar! :)