«Ich werde Rache nehmen.» Der Satz stand wie ein Vermächtnis in der Luft – er war das letzte, was ihre Familie von Hevidar hörte, bevor sie in die Berge ging – sie schloss sich der PKK an, als sie 14 Jahre alt war. Gründe, sich für den bewaffneten Widerstand zu entscheiden, gab es viele. Seit 1925 herrschte in den kurdischen Gebieten ein Ausnahmezustand, der über Jahrzehnte hinweg die Gesetzgebung ausser Kraft gesetzt hatte. Zehntausende verloren ihr Leben, hunderttausende wurden aus politischen Gründen verhaftet. Millionen von Menschen wurden zwangsumgesiedelt, tausende von Dörfern geräumt und zerstört.
All dessen war sich Hevidar bewusst, doch es war nicht der Grund dafür, dass sie, beinahe noch ein Kind, die schwerste Entscheidung ihres Lebens traf. Nicht nur, dass sie von diesem Tag an mit einer Waffe in der Hand leben und kaum mehr ruhig würde essen oder schlafen können – viel schlimmer war, dass sie ihre Eltern und Geschwister nie wieder sehen würde und das Leben, wie sie es bisher gekannt hatte, für sie unwiderruflich vorbei war. Doch sie befanden sich im Krieg, das stand für Hevidar seit jenem Tag ausser Frage.
Ihre Entscheidung hing nicht damit zusammen, dass sie die Auswirkungen jenes wütenden Staates von Kindesbeinen an in ihrem Dorf, in ihrer Nachbarschaft, in ihrer eigenen Verwandtschaft miterlebt hatte. Nein, es war nichts weiter als eine entschiedene, endgültige Antwort darauf, was in jener Novembernacht und in den zehn Tagen danach geschehen war. Als im Winter 1994 in die Stille eines ganz normalen Abends hinein die Fenster und Türen ihres Elternhauses mit krachenden und splitternden Geräuschen eingeschlagen wurden und eine Gruppe von scharf bewaffneten Männern ins Haus eindrang, lagen sie und ihre Geschwister Azad, Murat, Aylin und Eda schon im Bett. So wie sie waren, im Pyjama und mit nackten Füssen, wurden sie abgeführt, ohne Erklärung, nur mit geschrienen Befehlen und Drohungen, alle fünf.
Folterstaat Türkei
Azad und Murat blieben 17 Tage lang, die Mädchen 10 Tage lang in Untersuchungshaft. Da sie nach der Verhaftung getrennt wurden, erfuhren die Brüder erst Wochen später, dass Aylin, Eda und Hevidar freigelassen worden waren. Sie selber sollten die nächsten fünf Jahre in verschiedenen Haftanstalten verbringen – doch die ersten 17 Tage waren die schlimmsten. Denn Untersuchungshaft bedeutete Folter, und das Repertoire an Methoden, jemanden zum Reden zu bringen, war in der Türkei der 90er Jahre gross. Doch Folter ist in der Türkei bis heute Realität. Seit 2000 hat die Zahl der Folteropfer zwar abgenommen und die schlimmsten Foltermethoden werden nicht mehr angewandt. Trotzdem haben zwischen 2000 und 2010 insgesamt 11’515 Personen eine Klage wegen Folter eingereicht – mit einem rapiden Anstieg ab 2008. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen konstatieren auch in ihren aktuellsten Jahresberichten, dass Folter und Misshandlung in Haft sowie Polizeigewalt bei Demonstrationen nach wie vor ernstzunehmende Probleme darstellen. Die Stiftung für Menschenrechte in der Türkei (TIHV) hat es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Fall von Menschenrechtsverletzungen im Land aufzulisten und in einer jeweils zwei- bis dreizeiligen Notiz zusammenzufassen. Einmal pro Monat wird der Rapport in gesammelter Form auf Englisch verschickt – er umfasst im Schnitt zwanzig Seiten, das heisst um die 300 Vorfälle. Fast täglich findet sich irgendwo im Land mindestens ein Fall von Polizeigewalt, und auch Selbstmorde in Gefängnissen werden mit beharrlicher Regelmässigkeit rapportiert. Das Jahr 2013 fasste TIHV folgendermassen zusammen: 34 Menschen wurden von Sicherheitskräften getötet. In den Kasernen starben 32 Soldaten auf zweifelhafte Weise. 527 Personen erhoben Vorwürfe gegen Folter in Haft. 346 Gefangene verstarben in Haft. Unter dem Vorwurf, einer der PKK nahestehenden Organisation anzugehören, wurden 2982 Personen festgenommen. 278 Personen wurden zu insgesamt mehr als 2500 Jahren Haft verurteilt.
Zu Hause
Hevidar erzählte niemandem, was sie in den zehn Tagen mit ihr gemacht hatten. Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie nur immer wieder diesen einen Satz gesagt: «Ich werde Rache nehmen.» Wie Strassenköter waren die drei Mädchen nach der zehntägigen Folter ausgesetzt worden. In einem Quartier, in das sie sich selbst tagsüber nicht trauten, öffneten die Soldaten die Türen des Transporters und stiessen sie hinaus. Es war drei Uhr nachts, und an jeder Strassenecke hockte eine verzweifelte Gestalt. Es war das Quartier der Alkoholiker und Drogensüchtigen, in das die Mädchen entlassen wurden, und dies war sicher kein Zufall. Die Angst machte ihre Beine gleichzeitig weich wie Gummi und stark wie Stahl, und sie waren fast erschrocken darüber, wie schnell sie rennen konnten. Nur wenige Minuten zuvor hatten sie geglaubt, dass weder ihre Beine noch ihre Arme noch irgendein anderer Teil ihrer Körper die Kraft hätte, auch nur die kleinste Bewegung zu machen. Dennoch rannten sie, rannten schneller als je zuvor in ihrem Leben, rannten durch die Nacht, bis sie nicht mehr konnten, denn sie hatten nur einen Gedanken: nach Hause. Doch erst als der Morgen dämmerte, kamen sie in das Quartier, das sie vor zehn Tagen noch ihr Zuhause genannt hatten. Ob sie noch ein Zuhause hatten, ob sie je wieder dem Gefühl vertrauen konnten, irgendwo zu Hause zu sein, wussten sie nicht. Ein paar Tage später war Hevidar schon weg. Ihre Familie sollte sie nie wieder sehen, und bis heute weiss niemand, ob sie noch lebt. Es ist aber gut möglich, dass sie eine der Kämpferinnen ist, die seit Wochen das nordsyrische Kobane gegen die Angriffe des Islamischen Staates (IS) verteidigen.
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