Heute ist ein guter Tag, um einen Stein zu betrachten!

Stein

Steine haben mich schon immer fasziniert. Jeder von ihnen ist unvergleichbar und einzigartig. Doch jeder Stein steht auch stellvertretend für alle anderen. In einem einzelnen Stein kann man alle Steine erkennen und lieben. Und genauso ist es mit dem Menschen.

Ich schlendere durch ein Bachbett. Ich kann mich an den Formen und Mustern der feingeschliffenen Steine gar nicht satt sehen. Da gibt es fast kugelrunde oder perfekt eiförmige, die genau in meine Hand passen und sich irgendwie weich anfühlen. Ja, weich! Seltsam. Steine sollten doch hart sein, oder? Andere sind ganz flach und geben mir Gelegenheit, sie über die glitzernde Oberfläche tanzen zu lassen. Wie viele Male werde ich sie hüpfen lassen können? Fliegende Steine? Wie soll so etwas Schweres fliegen können? Ein Stein ist doch kein Vogel!

Und dann die Muster, die Farben! Wie kommt bloß ein dunkelgrüner Einzelgänger in die pastellene Vielfalt der Kiesel hier? Die hat der Fluss mitgebracht. Woher? Und weshalb nur gerade einen von dieser Sorte? Wo kommen überhaupt all die vielen Steine her? Waren sie einmal alle zusammen ein Stück Felswand, das in den Fluss gebröckelt ist, irgendwo in den Bergen da oben? Dann sind es sozusagen Felsenkinder und gar keine Steine. Oder ist Fels und Stein etwa dasselbe? Aber warum gibt es dann beide Wörter?

Jetzt halte ich einen mit einem durchgehenden ringförmigen Streifen in der Hand. Ein Wunschstein! Dies jedenfalls hat mir eine Freundin mal verraten: Für jeden Ring in einem Stein habe man einen Wunsch frei. Wenn das wahr wäre? Was soll ich mir bloß wünschen? Mit dem Wünschen ist das so eine Sache! Wie leicht kann man sich dabei vertun und etwas ganz anderes bewirken, als man eigentlich wollte … Vielleicht wünsche ich mir einen Edelstein. Hoppla! Schon wieder “Stein”! Aber der sieht doch nun wirklich völlig anders aus als diese Kiesel hier im Bach!

Und gestern haben wir Mühle gespielt. Dazu brauchten wir Spielsteine. Aber die waren aus Holz, also eigentlich “Spielhölzer”. Und die Mühlen haben auch gar nicht gemahlen, jedoch angemalt waren die Steine – die eigentlich gar keine waren –: weiß und schwarz. Angemalte Steine? Ist der dunkelgrüne hier etwa auch nur angemalt?

So viele verschiedene Steine! Aber: Was ist denn nun eigentlich ein Stein? Ein Stein ist etwas Hartes – und wie ist das mit dem Sandstein oder dem Speckstein? Etwas Schweres. Doch ein Tuffstein ist federleicht. Ein Stein besteht aus Mineralien? Aus anorganischem Stoff? Aus “toter Materie”? Er wird nicht geboren und wächst nicht. Und wie entstehen die Kristalle? Oder der lästige Zahnstein? Ein Stein kann auch nicht sterben, nur zerfallen zu Sand oder Staub. Tun wir das nicht auch nach unserem Tod? Er lebt also gar nicht. Da gehen die Meinungen aber auseinander! Er isst nicht und gebiert auch keine Jungen. Außer vielleicht die “Felsenkinder”?

Das Wort Stein
dem und jenem,
jener und dieser in den Mund gelegt:
Einem Maurer,
einer Gärtnerin,
einem Friedhofsbesucher,
einer Ärztin,
einem Zahnarzt,
einer Kirschenesserin,
einem Mühlespieler,
einer Juwelenhändlerin,
einem Hartherzigen,
einer Bildhauerin
und zugesehen,
wie sich die Bilder zum immer gleichen Wort
verändern.

Hans Manz

Dann ist also ein Stein für jeden Menschen etwas anderes? Wenn es doch nur so einfach wäre! Aber schließlich benutzen wir ja alle das Wort ziemlich häufig, und wenn wir das tun, dann gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass andere verstehen, wovon wir sprechen. Tun sie das wirklich?

Weiß ich denn nun, was ein Stein ist? Woher weiß ich, was ich über ihn zu wissen glaube? Sicher hat man mir, als ich noch ein Kind war, bei vielen Gelegenheiten gesagt: Schau, das ist ein Stein … oder: Das ist aus Stein. Ich finde es dennoch sehr erstaunlich, dass ich heute jeden Gegenstand, der im Allgemeinen als Stein bezeichnet wird, als solchen erkennen kann, auch wenn ich das betreffende Ding noch nie im Leben gesehen habe. Wann immer mir etwas – relativ – Hartes, – relativ – Schweres, nicht Lebendiges – kann man hierzu auch “relativ” setzen? – begegnet, nenne ich es “Stein”. Allerdings habe ich auch keine Hemmungen, einen Pfirsichstein so zu nennen, obwohl der doch aus Holz besteht – stimmt das? – und doch ganz sicher zumindest Leben enthält, denn es könnte ja ein Bäumchen aus ihm wachsen. Er bekäme so indirekt vielleicht sogar Junge, und das soll doch ein Stein nicht können, oder?

“Diamanten sind ewig”, lautet ein Werbespruch für Verlobungsringe. Noch so ein besonderer Stein! Ewig. Unvergänglich. Zeit-los? Ist vielleicht dies ein weiterer Grund für die Faszination der Steine, dass sie sich durch eine große Beständigkeit auszeichnen, dass sie uns alle überdauern? Wer hat nicht schon das leichte Erschauern verspürt beim Gang durch tausendjährige Ruinen? So alt sind die schon, und wir dagegen so klein und unbedeutend vor dem Weltganzen! Ich kann plötzlich verstehen, weshalb so viele Religionen heilige Steine kennen. In ihrer – relativen? – Beständigkeit scheinen sie dem Göttlichen irgendwie viel näher verwandt als wir kurzlebigen Menschenwesen! Und dann gibt es außerdem sogar noch zweitausendjährige Bäume und millionenjährige Tierarten, und versteinertes Holz und Versteinerungen von Tieren, die wir nur deshalb überhaupt kennen, weil sie in der Versteinerung die Jahrmillionen überdauert haben. Gemessen an der “Lebens”dauer – leben sie jetzt plötzlich doch? – sind all diese Stein-Wesen viel gottähnlicher als wir Menschen mit unseren paar Jährchen!

Wir sind so vergänglich, so endlich, so ganz anders als die Steine. Das müsste doch eigentlich irgend etwas bedeuten für unser tägliches Leben, oder nicht?


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