Gerade las ich einen tweet, der ging sinngemäß so: In diesen Tagen wurde vielen Juden klar, dass es um ihr Leben ging. Darum beschlossen sie, so schnell wie möglich auszuwandern.
Es dauerte einen kleinen Augenblick, bis ich begriff, dass sich dieser Text auf 1938 bezog.
Denn vor ein paar Tagen las ich einen Tweet, der ging sinngemäß so: Viele Juden haben heute wieder Angst in Deutschland und tauschen sich darüber aus, wie sie am besten auswandern können.
Wir feiern jedes Jahr den 9. November als tag des Mauerfalls ab. Es ist der Tag, an dem die DDR eher unabsichtlich die Grenzen öffnete. Manche sagen heute, dass damit der Schlamassel, in dem wir heute stecken, erst angefangen hat, aber das würde ich nicht unterschreiben.
Der 9. November, den andere hochtrabend “Schicksalstag der Deutschen” nennen, hat aber auch andere Dinge hervor gebracht.
Am 9. November 1848 wurde der deutsche Paulskirchenabgeordnete und Revolutionär robert Blum in Wien nach der Niederschlagung der Revolution erschossen.
Am 9. November 1918 verkündete der kaiserliche Reichskanzler Prinz Max von Baden die Abdankung des Kaisers, ohne dessen Zustimmung eingeholt zu haben, und bestimmte den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum neuen Reichskanzler, ohne dazu eine Rechtsgrundlage zu besitzen. In Berlin herrschte Revolution, und die Monarchie war am Ende. Karl Liebknecht, das ist sicher, rief vom berliner Stadtschloss die freie sozialistische Republik Deutschland aus. Kurz zuvor hatte auf einer Balkonbrüstung des Reichstages der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann eine kleine, improvisierte Rede gehalten, um die Massen zu beruhigen und die Bildung der neuen SPD-Regierung zu verkünden, um zu erklären, dass die Hohenzollern abgedankt hatten. Dabei sagte er zwar: Es lebe die deutsche Republik, doch eine Ausrufung der Republik hat es wohl tatsächlich nicht gegeben. Die Rede Scheidemanns ist erst im Nachhinein zum Gründungsakt der ersten deutschen Republik stilisiert worden.
Am 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler, in München die Macht an sich zu bringen und auf Berlin zu marschieren. Das gelang ihm nicht, weil ihn seine potenziellen Bundesgenossen, die großbürgerlich-ständische Bayerische Rechtsregierung, doch nicht unterstützen wollte, obwohl sie die Pläne beinahe zusammen ausgearbeitet hatten.
Das alles geschah an einem 9. November.
Na und? Das nennt man Geschichte!
Doch der 9. November 1938 ist der Anfang der Barbarei in Deutschland. Er ist der sichtbare Beginn des Zivilisationsbruchs, den wir im 20. Jahrhundert erlebt haben. An diesem Tag begann die physische Massenverfolgung der Menschen jüdischen Glaubens oder mit jüdischer Familie. Synagogen wurden zerstört, jüdische Mitbürger verprügelt, gefoltert, ermordet, Geschäfte geplündert, Überlebende ausgeraubt und mit einer unmenschlichen Steuer belegt und zur Auswanderung gezwungen. Wir wissen das alles, wir hören immer mal wieder davon, auch wenn viele es nicht mehr interessiert und sie es nicht mehr hören wollen.
Damals waren es die Juden, die man zu Gegnern, zu Sündenböcken und zu Opfern auserkoren hat. Doch es ist eigentlich egal, wer das Opfer war und ist. Das Schlimme ist nicht, dass es ausgerechnet die Juden waren, sondern dass es überhaupt geschah, egal, wer die Opfer waren, die Täter waren Deutsche. Und die Feiglinge hinter den Fenstern waren Deutsche, genau wie die dabeistehenden Feuerwehrleute und Polizisten.
Nie wieder!
Never Again!
Remember!
Wir rufen es in erstarrter Pose, weil man es eben ruft. Wir rufen es, und viele wenden sich ab. Wir rufen es, während Nazis in Berlin aufmarschieren, am 9. November, dem 80. Jahrestag des Greuelbeginns. Wir rufen es, während die AfD im Parlament sitzt und feixt.
Die, die etwas dabei empfinden, wenn sie es rufen, die schämen sich, dass auch nur ein Mitbürger, sei er Jude oder Moslem, über das Auswandern nachdenkt und nachdenken muss. Wir haben versagt, wir haben das Haus nicht rein gehalten, wir waren uns unserer Sache zu sicher, selbst wenn wir glaubten, überall Faschisten zu sehen. Jetzt wissen wir: Faschismus kann überall sein.
Der 9. November ist ein tag des Innehaltens, des Gedenkens und der Trauer.