Der Nobelpreis brachte Herta Müller und vor allem den Themen mit denen sie sich beschäftigt große Aufmerksamkeit. Allem vorran ihre Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Bespitzelung des rumänischen Volkes durch den Geheimdienst.
In ihrem zuletzt (Ende 2009) erschienen Roman „Die Atemschaukel“ spielt ein weiteres Mal das Schicksal eines Teils der rumänischen Bevölkerung eine wesentliche Rolle. Dabei geht es um die Inhaftierung und Entsendung von deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen in russische Arbeitslager, nach dem zweiten Weltkrieg.
Begonnnen hatte Herta Müller das Buch zunächst mit den Schriftsteller Oskar Pastior, welcher selber interniert war und ihr einen großen Teil zur Faktenlage mitteilen konnte. Als dieser während der Arbeit am Buch verstarb, hat Frau Müller das Buch allein verfasst.
Als zentrale Figur steht in diesem Buch ein junger Mann im Vordergrund. Er wird ohne Vorwarnung, von der Straße weg, in Haft genommen und muss die nächsten Jahre in einem Arbeitslager verbringen. Das heißt nicht nur, dass er körperliche hart arbeiten muss, sondern auch, dass seine Entwicklung und sein Eintritt ins Erwachsenenalter unter diesem Einfluss stattfinden.
Im Buch beschreibt er als Ich-Erzähler seine Entwicklung im Lager und den täglichen Kampf um Nahrung und das Überleben. Besonders die grundlegenden Bedürfnisse, wie das Essen, werden zum zentralen Thema. Jeder Akt der Nahrungsaufnahme, jede Möglichkeit etwas Essbares zu finden oder etwas Materielles dafür einzutauschen wird zum Lebensinhalt und -mittelpunkt. So ist es nicht allzu verwunderlich, dass es kaum eine nennenswerte Rahmenhandlung im klassischen Sinn gibt. Der Lageralltag bietet nichts angenehmes für die Internierten und treibt sie mehr und mehr in die körperliche und geistige Erschöpfung. Besonders belastend scheint neben dem Kampf um Nahrung die geistige Vereinsamung aller Insassen zu sein. Kaum eine vertraut sich jemand anderem an, kaum einer kann überhaupt jemandem ein Fünkchen Vertrauen schenken, denn alle sind aufs eigene Überleben fixiert. So wundert es auch nicht wie selbstverständlich der Tod hingenommen wird, wie den Toten die letzten Habseligkeiten abgenommen werden.
Mit jeder Zeile des Buches wird einem die Grausamkeit und die Kälte einer solchen Lagersituation deutlich, die beim Misstrauen der Insassen untereinander erst anfängt und bei Repressalien und körperlicher Gewalt längst nicht aufhört.
Wie schlimm die Entwicklung des Protagonisten wirklich ist wird einem als Leser am Ende des Buches noch einmal so richtig bewusst. Aufgewachsen in dieser kalten Umgebung, sich selbst überlassen findet er nicht nur sehr schwer wieder in die eigene Familie oder in den Alltag zurück, sondern ist auch nicht mehr annähernd in der Lage eine Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen.
Während er auch nach seine Rückkehr nicht aus sich herauskommt und keine Möglichkeit hat mit einer Verarbeitung der Geschehnisse zu beginnen, betrachtet ihn sein Umfeld mit Abstand. Selbst in seiner Familie traut sich keiner das Thema des Lagers anzusprechen, geschweige denn mit ihm darüber zu reden. Zum zweiten Mal im Leben spürt nun Ablehnung gegen sich, wobei diese durch seine Familie nahezu noch schwerer wiegt. Die Folge ist eine weitere Abkapselung und die zunehmende Unfähigkeit soziale Beziehungen einzugehen.
Herta Müller beschreibt in ihrem Werk eindringlich und bedrückend das Schicksal einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Dabei geht sie aber nicht nur auf die eigentliche Unterdrückung und Internierung ein sondern vor allem auf den Aspekt der geistigen Verarmung und Isolation, welcher für die Inhaftierten auch nach ihrer Freilassung noch schwer wiegt und das ganze weitere Leben beeinflusst. Doch sie erzählt nicht einfach nur platt eine Geschichte. Sie lässt ihren „Erzähler“ vieles in Gedanken- oder Traumfetzen vortragen. Sie verdichtet die Geschichte in sehr geschickter Weise, was den Leser nicht nur zum Zuschauer der Geschichte werden lässt sondern von ihm Engagement und Nachdenken verlangt. Das macht das ganze natürlich nicht gerade zur entspannten „Gute-Nacht-Geschichte“, sondern fordert Anstrengung.
Doch ich finde gerade für ein Werk mit dieser Thematik ist das mehr als angemessen.
Ein interessanter Punkt des Werkes ist, dass es viele Fragen stellt, einen mit vielen unausgesprochenen Fragen zurück lässt, aber nur ein einziges Mal am Ende überhaupt ein Fragezeichen gebraucht:
„Am nächsten Tag war Sonntag. Ich fing an, in das Diktandoheft zu schreiben. Das erste Kapitel hieß: VORWORT. Es begann mit dem Satz: Wirst du mich verstehen, Fragezeichen.“
Zusammenfassend muss ich gestehen, dass es ein schwieriges Buch ist, was mich lange beschäftigt hat. In seiner verdichteten Form versucht es viele Aspekte der pauschalen Lagerinternierung von Menschen und deren Folgen zu behandeln. Es rüttelt auf, verstört und lässt viel Leere zurück…
Herta Müller
„Die Atemschaukel“
304 Seiten
Carl Hanser Verlag, 2009
ISBN: 978-3-446-23391-1