Herr Erdmann und die Revolution

Rechenschaft abzulegen war fällig. Die ganze Zeit juckt es mich schon. Revolution oder Reform? In den Sozialismus oder gezähmter Kapitalismus? Letzteres ist für mich kein Widerspruch. Ich ließ da kürzlich was anklingen. Und diese Zeilen sollen der Versuch sein, ein wenig mehr dazu zu formulieren und ein Streitgespräch mit dem geschätzten Erdmann anzubahnen.
Er hat schließlich den Anfang gemacht. Hat mir zugerufen: »Hey, du bekennender Sozi, erkläre dich.« Mit seinen »Kreidestrichen« hat er mir jetzt einen Vorwand geliefert, mich endlich des Themas zu widmen. Danke. Einer musste mir ja mal in den Arsch treten.
Herr Erdmann und die RevolutionWas ich bei Erdmann oft lese, hat ein bisschen theologischen Charakter. Ich will das gar nicht abwerten. Auch das linke Seelenheil braucht Balsam. Und linke Theologie ist nicht unwichtig. In ihr steckt mehr Analyse und Erkenntnisgewinn als im rechten Dogma. Aber sie ebnet nicht den Weg, den man dann auch in der Realität gehen kann. Denn der Gott, der in dieser Theologie steckt, ist der versteckte Gott der Revolution, des Absterbens des amtierenden Systems. Letzteres muss natürlich überarbeitet und gezügelt werden. Aber Systemwechsel? Da höre ich »neuer Mensch« und »neues Bewusstsein« heraus. Und ich bin ehrlich zu alt für diesen Scheiß. Mir haben zu viele Regimes schon neue Menschen produzieren wollen. Nie kam was Gutes dabei herum.

Nein, daran kann man nicht mehr glauben. Und was soll das Geschwätz vom Umsturz auch bringen? So wie ich das sehe, haben wir nur zwei Optionen: Entweder lässt sich der Kapitalismus wie er sich jetzt gibt, an die Leine legen und zähmen oder er zähmt alles Menschliche. Einfach »Stop!« und »Neuanfang!« rufen ist nicht genug.
Evolution oder Revolution? Das ist letztlich die Frage. Und es ist der Vorwurf, den ich aus Erdmanns Text lese. Es ist, als sagte er mir: »Püntes, du musst einsehen, dass Veränderung nur mit harten Schnitten zu bewerkstelligen ist - und was du über Marx sagst, stimmt nicht.« Dabei ist doch zu fragen: »Welchen Marx meinst du?« Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen. Das wusste schon Heraklit. Weil das Wasser des Flusses nämlich nicht zweimal dasselbe ist und weil man selbst nicht immer derselbe bleibt. Auch Marx ging nicht doppelt ins selbe Wasser. Der junge Idealist hatte wenig vom alten Ökonomen, der später freilich nochmal idealistischer wurde zwischen seiner ganzen Wirtschaftswissenschaftlichkeit.
Warum haben sich die ersten Sozialisten Deutschland als Ausgangsbasis für eine sozialistische Revolution ausgesucht? Weil es industrialisiert war, kapitalistische Strukturen und kommunistischen Untergrund hatte. Als dann das agrarische Russland zur Wiege des Kommunismus wurde, glaubte man ganz im marxistischen Sinne nicht daran, dass ein Land ohne Industriekapitalismus diese Neuerfindung von Gesellschaft bewerkstelligen könne. Letztlich behielten diese Stimmen recht. Was ich sagen will: Wir müssen uns eingestehen, dass die soziale Ebnung der Gesellschaft, dass »Sozialismus«, wenn wir es so nennen wollen, die kapitalistische Basis braucht. Gysi hat das vor Jahren ganz ähnlich formuliert. Der Markt muss gar nicht grundsätzlich deaktiviert werden, meinte er sinngemäß. Aber in bestimmten Bereichen habe er nichts zu suchen. Zum Beispiel im Gesundheitswesen oder dem Wohnbau. Aber in anderen Bereichen ist er trotzdem sinnvoll. Diese Einstellung teile ich.
Was nötig wäre ist ein evolutionärer Weg, ein sozialdemokratisches Konzept des Reformismus. Sozialdemokratisch meint hier nicht die neoliberalen Leute um Gabriel, sondern die alte Idee dieses Lösungsansatzes. Die bewirkt keine Wunder und stößt an Grenzen. Aber welche Wahl haben wir sonst? Linke Vorstellungen sind ja ohnedies nur massenkompatibel, wenn sie ohne Aussichten auf Krawall schmackhaft gemacht werden. Wer kann es den Menschen verdenken, dass sie keinen Weg brutaler Umstülpungen gehen wollen?
Ich höre dich unken, Erdmann. Ich höre, wie du sagst: »Den Kapitalismus bändigen? Jetzt spinnst du endgültig.« Aber man muss diese Wirtschaftsform immer und immer wieder an die Leine nehmen. Die Fliehkräfte sind einfach zu groß. Das ist kein Kinderspiel. Aber warum sollte sich die Menschheit eine Bezähmung nicht zutrauen? Wer leugnet, dass man ein System von Menschenhand geschaffen, in den Griff bekommen kann, der bezweifelt aber auch, dass Menschen überhaupt etwas, was sie erzeugt haben, kontrollieren können. Und das ist eine ernüchternde Botschaft. Das ist Fatalismus. Wobei ich auch zugebe, dass mich die Situation des Systems selbst immer fatalistischer werden lässt.
Und jetzt höre ich wiederum die Leser mosern. Sie »Bist du auf Abwegen?« fragen. »Singst hier Hohelieder auf den Kapitalismus.« Nein, das tue ich nicht. Wie er sich jetzt gestaltet, ist er nicht tragbar, er mausert sich zur Diktatur - in manchen Weltregionen ist er es schon. Und ohne Kontrolle ist er ein gefährliches Tier. Aber ohne seine Grundlagen können wir kein gerechteres System begründen. Nichts lässt sich in der Welt ohne das aufbauen, was schon vorher in der Welt war. Mit den Siebzigerjahren, wie du schreibst, hat das aber nichts zu tun. Und falls doch: Was ist so verwerflich daran »zurückzufinden«, wie du es nennst? Nein, es gibt keinen »Willen, dem die Entwicklung folgt« - aber die Entwicklung folgt aus dem, was wir vorfinden. Und das ist nun mal dieses vermurkste System. Es abschalten und was Neues starten: So funktioniert Geschichte nicht. Dass das System krisenanfällig ist, müssen wir nicht explizit nochmals erwähnen. Aber die Krise ist nirgends völlig auszuschließen.
Die Linke braucht ein Konzept. Daran mangelt es seit so vielen Jahren. Und ich bin ratlos wie alle anderen. Der eine Teil der strukturellen Linken passte sich aufgrund dieser Ratlosigkeit völlig an und ist neoliberal, das heißt: beliebig geworden. Wie aber dann? Wir müssen den Kapitalismus anpassen - das scheint mir der einzige Weg, der uns offen bleibt. Dann wird aus ihm auch sowas ähnliches wie ein Sozialismus. So weit die Theorie, keine Ahnung was in der Praxis daraus wird. Mensch Erdmann, sag' du doch auch mal was!
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