Herbert Marcuse – König im Philosophenstaat?

Skandal! Der angeblich antiautoritäre Marxist Herbert Marcuse fällt an einer Stelle in Der eindimensionale Mensch in tiefste ML-Doktrinen zurück und schwafelt etwas von „materiellen Vorbedingungen“ der Freiheit. Konsequenterweise denkt er wenige Zeilen später ernsthaft über das Konzept der „Erziehungsdiktatur“ (!) nach. Dies zeigt, wie sehr der Histomat zur intellektuellen Verwirrung selbst noch in der „Frankfurter Schule“ geführt hat. Dabei weiß doch jedes Kind, dass

a) eine befriedete, herrschaftsfreie Gesellschaft bereits in der Steinzeit zu verwirklichen gewesen wäre.
b) die Steinzeitmenschen nicht wesentlich irrationaler waren als wir.
c) es sowas wie eine „Notwendigkeit in der Geschichte“ einfach nicht gibt – die Revolution könnte jeden Tag passieren.

Die Frankfurter vertreten, da sie diese einfachen Einsichten von großen Forschern wie Hans-Peter Duerr nicht anerkennen, zwar nicht notwendig, aber doch irgendwie mit diesem Faktum zusammenhängend, einen zynischen Pessimismus, der mich zutiefst anekelt. Pfui.

Hier das Marcuse-Zitat in voller Länge:

Das Argument, das sich auf die historische Rückständigkeit beruft – demzufolge unter den herrschenden Bedingungen materieller und geistiger Unreife Befreiung notwendigerweise das Werk von Gewalt und Verwaltung sein muß – bildet nicht nur den Kern des Sowjetmarxismus, sondern ist auch von den Theoretikern der »erzieherischen Diktatur«, von Platon bis Rousseau verfochten worden. Es ist leicht lächerlich zu machen, aber schwer zu widerlegen, weil es das Verdienst hat, ohne viel Heuchelei die (materiellen und geistigen) Bedingungen anzuerkennen, die dazu dienen, wahrhafte und vernünftige Selbstbestimmung zu verhindern.
Außerdem entlarvt das Argument die repressive Freiheitsideologie, wonach menschliche Freiheit in einem Leben von Mühe, Armut und Dummheit aufblühen kann. Allerdings muß die Gesellschaft erst die materiellen Vorbedingungen der Freiheit für alle ihre Glieder schaffen, ehe sie eine freie Gesellschaft sein kann; sie muß zunächst den Reichtum hervorbringen, ehe sie imstande ist, ihn gemäß den sich frei entwickelnden Bedürfnissen des Individuums zu verteilen; sie muß erst ihre Sklaven befähigen zu lernen, zu sehen und zu denken, ehe sie wissen, was vor sich geht und was sie selbst tun können, um es zu ändern. Und in dem Maße, wie die Sklaven vorgeformt sind, als Sklaven zu existieren und mit dieser Rolle zufrieden zu sein, scheint ihre Befreiung notwendigerweise von außen und von oben zu kommen. Sie müssen »gezwungen« werden, »frei zu sein«. Man muß ihnen die Dinge »so vor Augen stellen, wie sie sind«, und »manchmal wie sie … erscheinen sollen«; man muß ihnen den »guten Weg« zeigen, den sie suchen. [Zitat aus Rousseaus Contrat social; TS]
Aber bei all seiner Wahrheit kann das Argument die altehrwürdige Frage nicht beantworten: wer erzieht die Erzieher und was beweist, daß sie im Besitz »des Guten« sind? Die Frage wird nicht durch den Einwand entkräftet, daß sie gleichermaßen für bestimmte demokratische
Regierungsformen gilt, bei denen die schicksalsschweren Entscheidungen über das, was für die Nation gut ist, von gewählten Abgeordneten getroffen (oder vielmehr gutgeheißen) werden – gewählt unter Bedingungen wirksamer und bereitwillig entgegengenommener Indoktrination. Und doch besteht die einzig mögliche Entschuldigung (sie ist schwach genug!) der »Erziehungsdiktatur« darin, daß das schreckliche Risiko, das sie einschließt, nicht schrecklicher als dasjenige sein kann, das die großen liberalen wie autoritären Gesellschaften jetzt eingehen, und daß die Kosten nicht viel höher sein können.

Quelle: Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. München 2005, S. 60 f. bzw. hier, S. 75 f. Hervorhebungen im Original.

In einem Spiegel-Interview von 1967 redet er dann Klartext und spitzt diese fatale Sichtweise noch zu. Zunächst spekuliert er auf die Frage nach dem Ziel der damaligen Studentenbewegung wieder ganz harmlos über „Bedingungen“ einer besseren Gesellschaft:

Ganz allgemein gesprochen, würde ich sagen: eine Gesellschaft ohne Krieg, ohne Grausamkeit, ohne Brutalität, ohne Unterdrückung, ohne Dummheit, ohne Häßlichkeit. Daß eine solche Gesellschaft möglich ist, daran zweifele ich überhaupt nicht, wenn ich mir die heutigen technischen, wissenschaftlichen und psychologischen Bedingungen ansehe.

Dann zieht er, zynisch wie man als hegelianischer Philosoph nur sein kann, die auf der Hand liegende Konsequenz:

Ich glaube, daß die Revolution zu einer Erziehungsdiktatur tendiert, die sich in ihrer Erfüllung aufheben würde.

Später bejaht der die Frage ob er den Menschen „umprogrammieren“ wolle. Tanzen können wird man bei dieser „Revolution“ wohl nicht …

Übrigens, nur damit es niemand falsch versteht: der obige Text ist sarkastisch gemeint und eine Reaktion auf die aktuell schwelgende Debatte zur materialistischen Geschichtsauffassung, in deren Verlauf ich u.a. selbst davon sprach, dass ich den Gedanken einer „Erziehungsdiktatur“ für nicht völlig verwerflich halte (was denn auch – wie zu erwarten war – zu einiger geradezu reflexhaften Empörung bei meinen Mitdiskutanten führte).
Die zitierte Passage wird Marcuse übrigens von Reaktionären und Anarchisten aller Fraktionen vorgeworfen. Hier nur ein besonders typisches Beispiel von einem SPD-Landtagsabgeordneten. Weitere konterrevolutionäre Artikel dieser Art finden sich via google zu Hauf.

Meines Erachtens ziehen meine und Marcuses Positionen – was radikale Linke betrifft – nur soviel Empörung auf sich, weil sie desillusionierend wirken und manche naive Träume ob der der Weltrevolution etc. zerstören. Gerade in der heutigen Lage sind die Chancen für eine communistische Revolution wohl geringer denn je – gerade deshalb flüchten sich ihre Anhänger wohl in eine realitätsferne „Destruktion“ der Marxschen Geschichtsauffassung – vollzieht sich die Geschichte nicht in notwendigen Tendenzen, sondern plötzlichen Brüchen und Kontingenzen, ist eine baldige Revolution denkbar, auch wenn die eigene Erfahrung noch so sehr dagegen spricht. Dies scheint zumindest ein Faktor zu sein. Zugleich verhindert diese Denkweise, sich ernsthaft mit den Möglichkeiten einer Revolution heute auseinanderzusetzen und daraus u.U. entsprechende praktische Konsequenzen zu ziehen. Sie verdeckt, dass es heute alles andere als rational ist, an den Marxschen Hoffnungen auf eine „befreite Gesellschaft“ festzuhalten, sondern viel eher eine nahezu verrückte Entscheidung, obwohl es die einzig vernünftige ist. Die „Frankfurter“ haben in ihrer Zeit härter und gründlicher über derartige Probleme reflektiert, als ein Großteil der heutigen Linken, die sie eher als unwillkommene Unkenrufe beiseite schieben und darüber offensichtlich garnicht auf materialistischer Basis nachdenken wollen, obwohl es mehr denn je Not tun würde.


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