Hendryk Miller - Teil 3

Von Derbalubaer

Der schmale Lichtkegel wurde von Sekunde zu Sekunde breiter und schließlich war der ganze Theatersaal hell erleuchtet. Die Besucher sprangen auf und jubelten ihm frenetisch zu. Er hatte es geschafft. Sein Herz schien ihm die Luft aus der Lunge zu schlagen, doch er fühlte sich wohl.
Augenblicke später fand er sich in der Eingangshalle des Theaters wieder. Hendryk hörte zufrieden das leichte Kratzen seiner Montblanc, mit der sie in feinen Zügen die Widmung und sein Autogramm auf der Buchseite verewigte. Erst hatte er den kräftigen Kerl, der sich von ganz hinten einen Weg durch die
Menge bahnte, nicht bemerkt. Doch die Menschenmenge wurde unruhig und er konnte Laute des Unmuts und der Empörung hören. Wieder fühlte er, wie sein Herz zu pochen begann, als er den grobschlächtigen Kerl erkannte. Der Barkeeper rollte wie ein Schneepflug durch seine Fans und schließlich baute er sich vor ihm auf. Der Mann, der immer noch fett und ungepflegt war, hielt ihm ein Buch unter die Nase. Sein Buch. Doch anstatt nach einem Autogramm zu fragen, sagte er etwas vollkommen unsinniges.
"Verschwinde hier. Du hast hier nichts verloren"
"Was soll ich ...?", fragte Hendryk verdutzt und die Leute rund um ihn begannen, sich davonzumachen.
Der Kerl vor ihm begann, seiner Aufforderung mit dem Stiefel Nachdruck zu verleihen. Wieder und immer wieder trat er gegen seine Beine."Du sollst dich vom Acker machen. Ich muss den Müll hier wegschaffen."
Die Besucher waren plötzlich alle verschwunden. Die Eingangshalle löste sich langsam auf und verwandelte sich in zwei Container, die links und rechts von ihm aufragten. Das antike Kanapee, in dem er eben noch saß, wurde zu einem Haufen schwarzer stinkender Müllsäcke. Hendryks Schädel brummte und sein Gesicht schmerzte. Er musste Husten und spuckte dabei Reste von Blut aus.
"Verschwinde endlich, bevor ich dir Beine mache."
Der riesige Kerl war nicht der Barkeeper, soviel konnte er schon erkennen. Der Lastwagen, der piepend rückwärts in die schmale Gasse schob, trug die Aufschrift der örtlichen Müllabfuhr. Er lag inmitten von Abfall. Bis hier hin war er gekrochen, nachdem ihm der Fettwanst letzte Nacht ins Gesicht getreten hatte.
"Ich ... ich ... geh schon", stammelte er, während er sich mühsam aufraffte. Er benötigte ein paar Versuche. Die Seiten seines Manuskripts, welches er noch immer umklammert hielt, wollte er um keinen Preis loslassen.
"Überall diese verdammten Penner", der Müllmann spuckte aus. "Als ob ich nicht schon genug Dreck hier rumliegen hätte."
"Ach fahr doch zur Hölle", antwortete Hendryk und versuchte sich zu orientieren. Die Gasse endete in einer Backsteinmauer. Um hier wegzukommen, musste er sich an dem Müllwagen vorbeizwängen. Sein Jackett blieb mit der Brusttasche an einer abstehenden Schraube hängen. Das Geräusch erinnerte ihn schmerzhaft an die unzähligen Seiten, die er in den letzten Monaten zerrissen hatte. An das Blut das er geschwitzt und die Tränen, die er vergossen hatte, um sein großes Werk fertigzustellen. Das Gesicht der Lektorin tauchte vor ihm auf und wurde zu einer grell lachenden Fratze.
Hendryk schüttelte den Kopf und bereute die unbedachte Bewegung im selben Augenblick. Ein Schwur, dem Alkohol auf ewig zu entsagen, lag ihm auf den Lippen, doch er biss sich lieber darauf. Das Risiko, sein mieses Leben nicht mehr für ein paar Stunden vergessen zu können, wollte er nicht eingehen.
An der Ecke wartete ein Taxi. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Wenigstens musste er nicht nach Hause laufen. Er tastete nach seiner Gesäßtasche. Zufrieden fühlte er die Ausbeulung und fingerte sein Portemonnaie heraus. Doch schlagartig wurde ihm bewusst, dass er nichts als gähnende Leere darin finden würde. Der Hunderter, der eigentlich für die Stromrechnung gedacht war, lag nun in der Kasse der heruntergekommenen Bar, die er am liebsten nie gefunden hätte. Das Schicksal war grausam mit ihm.
Wer sein Leben in den Griff kriegen will, darf den Versuchungen nicht erliegen, kam es ihm in den Sinn.
"Woher habe ich denn diesen Blödsinn wieder?", sprach er lauter aus als ihm bewusst war. Ein vorübergehender Junge blickte ihn an, als hätte er einen Irren gesehen.
"Was glotzt du so?", schnauze er das Kind an, das unmittelbar zu Laufen anfing. Er dachte einige Augenblicke nach und während er an dem Taxi vorbeiging, dass er sich nun nicht leisten konnte. Das Büro im Verlag fiel ihm ein. Er hatte den Spruch hinter der Lektorin gesehen. Auf einem Kalender.
"Ein dämlicher Kalenderspruch. Von irgendwelchen ahnungslosen lebensfremden Studenten für ein Butterbrot zusammengetragen und auf 365 dumm schwätzende Blätter gedruckt. Und die sollen das Leben besser machen", murmelte er vor sich hin.
"Wer sein Leben in den Griff kriegen will, darf den Versuchungen nicht erliegen - Schwachsinn!"