Helmut Maletzke - Gedanken zu einem Interview

Von Jost Aé

Aber die Schrifftgelereten und Phariseer brachten ein weib zu jm / im ehebruch begriffen / und stelleten sie offentlich dar / vnd sprachen zu jm / Meister / dis Weib ist begriffen auff frischer that im ehebruch / Moses aber hat vns im Gesetz gebotten / solche zu steinigen / Was sagestu? Das sprachen sie aber / jn zuuersuchen / auff das sie eine sache zu jm hetten. Aber Jhesus bücket sich nidder / vnd schreib mit dem finger auf die erden. Als sie nu anhielten jn zu fragen / richtet er sich auff / und sprach zu jnen / Wer vnter euch on sunde ist / der werffe den ersten stein auff sie / vnd bücket sich widder nidder / und schreib auff die erden. Da sie aber das höreten / giengen sie hinaus / einer nach dem andern / von den Eltesten an / und liessen Jhesum alleine / und das Weib daselbs stehen. Jhesus aber richtet sich auff / und da er niemand sahe / denn das Weib / sprach er zu jr / Weib / wo sind sie / deine verkleger? hat dich niemand verdampt? Sie aber sprach / Herr / niemand. Jhesus aber sprach / So verdamme ich dich auch nicht / gehe hin / vnd sundige fort nicht mehr. (zitiert aus Martin Luther, Biblia / das ist / die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Bd. 2, 1983 Philipp Reclam jun. Leipzig) 

Immer wieder gibt es Momente, die uns betroffen machen und uns Gelegenheit geben, unser Leben zu überdenken, ob wir etwas falsch gemacht, etwas versäumt, wen oder was wir vernachlässigt haben. Der Tod eines geliebten Menschen, Unfall, Unglück, eine Katastrophe, die Übertragung einer Traumhochzeit im Fernsehen, eine auf den ersten Blick belanglose Zeitungsnotiz, eine Scheidung im Freundeskreis, die Geburt eines Kindes, Krankheit, eine Bach-Fuge … Oder das Auffinden alter Liebesbriefe, das Foto eines längst vergessenen Menschen, die plötzliche Erinnerung an ein nicht eingelöstes Versprechen. Oder die Konfrontation mit lange erfolgreich Verdrängtem.

Helmut Maletzke, nach dem ersten großen Krieg hineingeboren in die Depressionen einer aus den Fugen geratene Welt, gehört einer Generation an, die die längste Zeit ihres mündigen Lebens den Gefährdungen zweier ideologietrunkenen Diktaturen ausgesetzt war. Entronnen dem zweiten großen Krieg, wollte es diese Generation nicht noch einmal falsch machen – und musste doch wieder scheitern. Ungeübt in der therapeutischen Kunst der „Verarbeitung“ seelischer und körperlicher Traumata, eigene Schuld eingerechnet, war sie Meister in der Kunst des Verdrängens! Die eigene Betroffenheit, der eigene Opferstatus – und wer war nicht irgendwie Opfer? – schien dieser Generation das Recht zu geben,  das anderen zugefügte Leid und Unrecht zu ignorieren. Nach außen zumindest. Was in den Träumen sich regte, und nachts noch heute die Überlebenden quälen mag – wer kann es ermessen?

Wie aber nun, wenn heute Schuld von einst an den Tag kommt? Wie sich retten, wie flüchten? Ist doch alle Ausflucht umsonst! Töricht! Verletzt aufs Neue!

Die Chance ergreifen, der Lüge überhoben zu sein, seinen Frieden machen mit sich und der Welt, will sagen, mit dem Bild, das man der Welt von sich gab – wäre das Befreiung nicht, nicht Rettung auch dessen, was Bestand haben mag? Ob des pharisäerhaften Geschreis der Allzugerechten selbst zum Pharisäer werden, sich zum Opfer stilisieren, Beharren, Erstarren – das ist die neue Versuchung, der zu widerstehen wäre. Woher die Kraft dazu nehmen?

Wäre man, der „Gnade der späten Geburt“ teilhaftig,  ein anderer geworden? Eine müßige Frage. Man muss in der Zeit bestehen, in die man geboren ist. Schuldig werden kann man als Verhängnis begreifen, als Fluch der frühen Geburt, der Geburt zur falschen Zeit am falschen Ort – es relativierte nicht die eigene Schuld. Werden nicht alle Menschen zu früh geboren, solange das Paradies noch auf sich warten lässt?

Immer wieder von Neuem, wo es Macht gibt,  lauern Anfechtungen und Versuchungen, sich ihr anzudienen. Den eigenen Nutzen suchen, wo man der guten Sache zu dienen sich belügt – auch ohne Spitzelapparat geht das. Im Betrieb, unter Freunden, in Organisationen, in der Familie, überall, wo man, vielleicht durch einen Halbsatz, eine scheinbar unauffällig platzierte Bemerkung, einen anderen dezent anschwärzt. Wer könnte sich so ganz frei von all dem wähnen? Oder plump seine Dienste anbieten, aus Angst den Arbeitsplatz zu verlieren oder eine  Sicherheit, oder ein Erbe. Was macht eine Schulsekretärin, wenn ein freundlicher Herr einer für den Schutz der Verfassung zuständigen Institution sich morgen höflich nach dem einen oder anderen Schüler erkundigt …?

„Wer unter euch ohn’ Sünde ist, der werfe den ersten Stein …“ das soll gelten, aber auch das: „gehe hin, und sündige fort nicht mehr“.

Woher die Kraft nehmen – zum großen Aufräumen? Helmut Maletzke verfügt über einen Schatz, über „die Kunst“ als „Vermittlerin des Unaussprechlichen“. Sein Bild „Unser freier Wille“ von 1994 sagt vielleicht mehr von diesem Unaussprechlichen aus, als ihm, dem Malenden, bewusst war. Nun ist es Zeit, wieder hineinzugehen in das Bild, und es zu befragen, was da außer Zynismus noch gesagt werden wollte. Das wäre ein Weg, der dazu befreite, genau das nun selbst sagen zu können, was gesagt werden muss. – Dies wünschte ich Helmut Maletzke!