Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, in Büchern, die ich lese und hier vorstelle, mit diesen bunten Klebezetteln Stellen zu markieren, die als Zitat in Frage kämen. Dieses Buch hier hat den Rekord gebrochen; habe ich doch 28 Stellen markiert…
Das Buch kam in meine Hände, weil ein Freund meinte, dass mich das sicherlich interessieren würde und er gespannt wäre über meine Meinung dazu. Mir scheint, er hat Einiges daran auszusetzen…
Ja, auch wenn Manfred Wekwerth im Vorwort schreibt: “Das Buch…ist nicht nur ein hervorragender politischer Text, es ist auch ein literarischer…” so ist gerade das – nun sagen wir – bestreitbar. Der Autor, Heinz Dieterich, schwankt zwischen der Sprache eines politisch-philosophischen Textes und eher populärwissenschaftlichem Duktus. So sind viele Fremdworte oder Fachbegriffe erklärt, indem eine Entsprechung in Klammern dahinter steht. Dies allerdings wird nicht konsequent gemacht und manchmal sogar umgedreht. Das stört den Lesefluss.
Aber nichtsdestotrotz hat Dieterich einiges zu sagen. Und das hebt diesen Nachteil völlig auf; denn in diesem Buch geht es um die Gedanken und Ideen und weniger um den Stil.
Grundsätzlich ist Dieterich der – sicher nicht unstrittigen – Meinung, dass das Zeitalter des Kapitalismus/Imperialismus sich seinem Ende entgegen neigt. Und – geschult an Marx, Engels und Lenin – so versucht sich der Autor mit einer Utopie für die Zukunft: wie kann, wie muss eine Gesellschaft des Postkapitalismus aussehen.
Leider mangelt es mir am Glauben; aber ich wünschte, das, was Dieterich als Zukunftsbild malt, könne in irgendeiner Form tatsächlich erreicht werden.
Bedrückt durch die existentielle tägliche Angst um seine ungesicherte Reproduktion, ohne geistige Transzendenz in einem Meer trivialisierenden Konsumismus navigierend und ständig weiter um sich greifender Tendenzen religiösen und magischen Obskurantismus ausgesetzt, kann das entfremdete Subjekt seiner Situation innerhalb der ehernen Strukturen bürgerlicher Gesellschaft keine Erlösung verschaffen. Diese wird nur möglich sein in einer Form qualitativ andersartigen Zusammenlebens in einer neuen Wirklichkeit: der demokratischen Wirtschaft und Gesellschaft der nachkapitalistischen Geschichtsphase, in deren Übergang wir uns befinden. Seite 18
Nicht alle Sätze des Buches sind so lang und kompliziert. Das wäre dem Buch anzukreiden: dieser unstimmige Wechsel zwischen einem ökonomisch-philosophischen Traktat und der Sprache einer Tageszeitung:
Ein der Mystik progressiv verfallender Ex-KGB-Funktionär und eine alkoholisierte Randfigur der Lumpenbourgeoisie…. Seite 19
Dieterich nennt die Gesellschaftsordnung der Zukunft Das neue historische Projekt. Ich möchte nun nicht im Einzelnen ausführen, worin genau die Idee des Projektes besteht (das würde heißen, das halbe Buch zu erklären); aber einige – wir mir scheint – hochaktuelle Zitate erwähnen.
So schreibt Dieterich über das Ungleichgewicht der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums; aber nicht nur innerhalb der Grenzen das Westens, sondern in einem globalen Maßstab. Das erscheint mir auch richtig, ist doch die Wirtschaft kaum noch auf nationale Ebene beschränkt sondern vielmehr globalisiert. Das beginnt mit dem Rohstoffen und Bodenschätzen bis zum Verkauf von fertigen Waren.
Dieser … Zustand … gebärt folgende Frage: Wie schafft es eine globale Minderheit von zehntausend Bankern, Industrie- und Handelskapitalisten, die Mehrheit von 5,5 Milliarden Menschen auf derart brutale Weise von den Wohltaten der Arbeit, der Kultur und der aktuellen Technologie abzuschließen? Oder anders gefragt: Warum toleriert die überwiegende Mehrheit der Menschen die Tyrannei…? Seite 145
Innerhalb der Gesellschaftsordnung des Neuen historischen Projektes wird es daher keinen Ware-Geld-Austausch mehr in dem Sinne geben, wie wir ihn heute kennen. Dieterich plädiert hier für die Anwendung des Äquivalenzprinzips. Das heißt, dass der Wert einer Ware oder einer Dienstleistung nicht mehr frei bestimmt von dem sein soll, der die Ware oder Dienstleistung anbietet sondern dass – ähnlich wie in der Frühgeschichte der Menschheit – nicht der monitäre (und damit subjektiv definierte) Wert als Grundlage des Austausches gilt, sondern der tatsächliche Wert einer Ware oder Dienstleistung, wie er sich darstellt durch die in ihr investierte tatsächliche Arbeit.
Ich bin kein Ökonom und kann die Modelle, die im Buch zur Berechnung des Werte nach dem Äquivalenzprinzip nicht oder nur schwer nachprüfen. Doch klingt mir das, was ich begreife, logisch und als Möglichkeit für eine gerechtere Zukunft. Vor allem, und darauf weist Dieterich dediziert hin, vor allem kann so das Ungleichgewicht zwischen dem reichen Westen und dem ausgebeuteten Rest der Welt aufgehoben werden. Er plädiert sogar dafür, dass den Ländern, die wir, die der Westen seit mehreren Generationen erbarmungslos ausgebeutet haben, eine Wiedergutmachung zugestanden wird; werden muss.
Mehrfach verweist der Autor auf Arno Peters, der das “Äquivalenzprizip als Grundlage der Global-Ökonomie” entwickelt hat und die ersten Modelle zur Berechnung der (tatsächlichen) Werte von Waren und Dienstleistungen erstellt hat (die sog. Peters-Rose).
Abgedruckt ist (von den Seiten 118 bis 122 ein Interview, das der Autor mit Arno Peters führte und in dem es um die grundlegenden Fragen zu diesem neuen Wirtschaftssystem geht:
F.: “Ist Ihr Vorschlag die Fortsetzung des Marx/Engels-Projektes?”
A.:”Gedanken von Marx und Engels sind in die äquivalente Ökonomie mit eingegangen wie Gedanken anderer Philosophen, Historiker, Ökonomen und Soziologen der letzten fünf Jahrtausende. Seite 122
Nun ja… ich denke schon, dass die Idee, die Dieterich vertritt, eine Fortschreibung der Marx’schen Ökonomie ist. Nicht mehr und nicht weniger.
Ein Bestandteil des Neuen historischen Projekts ist auch eine “direkte Demokratie“, eine Demokratie, die in den Kommunen beginnt und global denkt. (Mich erinnert das ein wenig an Bahro’s Ideen.)
Da ich das Gefühl habe, schon viel zu viel geschrieben zu haben abschließend noch ein Gedanke: ich empfinde die Logik, die der Idee eigen ist, als schlüssig. Ich wünschte, es würde das Wunder geschehen… Allein mir fehlt der Glaube.
Denn wenn Dieterich davon ausgeht, dass das Proletariat die notwendige Revolution auslösen wird… dann frage ich mich; welches Proletariat? Das hier im Westen? das vollgefressene? RTL2-Bildzeitungs-verblödete?
Die kostbarste Gabe der Menschheit, das intellektuell-rationale Denkvermögen, unterliegt dem ständigen Versuch des Systems, seine kritischen Elemente und Potentiale zu atrophieren. Es handelt sich um eine Art kultureller Lobotomie, die die Mehrheit der Bürger in einem wesentlich instrumentalen, vorwissenschaftlichen und vormoralischen Stadium geistiger Entwicklung einzuschließen versucht. Seite 57
Nein, wenn sich die Welt, die Gesellschaft in der Form ändern soll wie es Dieterich und offenbar auch Peters wünschen… dann kann das meiner Meinung nach seinen Ausgang nur in den sog. Schwellenländern nehmen.
Nic
Nachtrag: In der Süddeutschen Zeitung ist am 12. Dezember 2008 ein längeres Interview mit Dieterich erschienen.