Heimatten

Ich gehe durch die Straßen meiner Studienstadt. Es fühlt sich komisch an, denn etwas fehlt.
Nachdenklich schlendere ich hinter Herrn L. und den Kindern her und überlege, was es sein könnte.

Heimat.
Es gibt eine Urheimat, eine Wahlheimat. Eine zweite Heimat, eine neue Heimat, eine alte. Aber nirgendwo steht etwas von “Heimatten”: Es ist kein Plural vorgesehen!
Einige Bekannte von mir erzählen mit leuchtenden Augen, dass sowohl Deutschland, als auch die Türkei ihre Heimat sind. Fast jedes Jahr besuchen sie für mehrere Wochen die weitläufige Familie in der Türkei und später mal “wieder zurückzugehen” ist so klar wie Kloßbrühe.
Hochinteressant für Wissenschaftler, die was von “transkulturellen Identitäten” und anderen schlauen Fachtermini erzählen. Interessant und faszinierend, zweifellos.

Aber nichts für mich. Weil ich da nicht drinstecke. Ich war nie außerhalb Deutschlands ansässig. Und wenn mich einer nach meiner Heimat fragt, komme ich ins grübeln.
Fragt mich ein Einwohner eines anderen Landes: “Woher kommt Du?”, sage ich zuerst “Deutschland!”. Dann versuche ich das eventuell anhand größerer, bekannterer Städte zu präzisieren. Oder auch nicht, denn meistens ist es für das Gespräch egal.
Fragte mich ein Student nach meiner Herkunft, nannte ich mein Bundesland, usw.
Aber nichts davon würde ich als meine Heimat bezeichnen.

Heimat ist an allererster Stelle Herr L. Ein Mensch. Und dann noch weitere Menschen: Meine Kinder. Aber sonst? Ich bin es schon lange gewohnt, Familie und Freunde weiter weg zu haben. Die braucht`s zum leben, klar, aber nicht zum heimatten.
Bekannte, das trifft es schon eher. Nachbarn, Leute, die man noch von früher kennt. Wenn ich zu Besuch in Urheimat bin, treffe ich sie zu Dutzenden: Die Verkäuferin im Laden, die eine Frau, die früher Verkäuferin war, meine alte Kindergartentante, ein paar Assis Leute aus meiner Grundschule oder vom Gymnasium … Auch Freunde, ja, und ehemalige Freunde. Einst Seelenverwandte und jetzt so fremd, dass die Freundschaft unwirklich erscheint.
Mit vielen von denen rede ich ja gar nicht, grüße nur kurz oder hier und da ein kleiner Plausch.
Dennoch sind sie Heimat.

Ich gehe durch die Straßen meiner Unistadt, die so lange Heimat für mich war. Doch bis dahin war es ein langer, langer Weg.
Obschon in keiner Großstadt gelandet, traf mich kurz nach dem Umzug der Kulturschock. Dass man nicht vor der Haustür parken kann, also da wo man wohnt, erschien mir als Dorfkind sehr abstrus. Und die vielen Menschen! Es gab Tage, da habe ich so dermaßen einen Rappel gekriegt, bin fast panisch geworden ob der Massen um mich herum! Und die Geräusche! Immer laut, immer Autos, LKW, Menschen: Lachend, streitend, murmelnd, schreiend, all diese Stadtgeräusche eben! Wahnsinn! Overload, overkill!!!!!!

Es hat lange gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe. Und wie ich meine Heimat vermisst habe! Klar, das Studentenleben war neu und bunt und aufregend! Aber oh, wie ich mein Zuhause vermisst habe! Mit allen Wegen und Straßen und Wiesen und Bäumen und Menschen.
*Seufz*

Ich war sehr oft in der Urheimat, mindestens jedes zweite Wochenende. Dadurch hat sich meine “Integration” natürlich noch weiter verzögert, aber ich brauchte das einfach.
Irgendwann kam dann der Umschwung und aus Unistadt wurde Heimat.
Das habe ich an zwei Dingen gemerkt:
1. Kam ich zurück nach Unistadt, dachte ich: “Boah, ENDLICH wieder daheim!”
2. Kam ich nach Urheimat, dachte ich nicht mehr: “…”
Was? Wie bitte? Nee, so nicht! Anders. Hmm. Es war eher so, dass etwa fehlte, wenn ich wieder dort war. Etwas war … weg. Mein Heimatgefühl? Keine Ahnung, aber irgendwas war es. Wie wenn man etwas nicht mehr direkt sieht, sondern nur noch durch eine Glasscheibe: Oft nur ein hauchfeinder Unterschied, dessen man sich aber vollauf bewusst ist.
Etwas fehlte. Meine Urheimat war mir nicht mehr ganz so vertraut wie einst, einen winzigen Hauch nur weniger. Aber dieser Hauch reichte. Urheimat war nicht mehr meine Heimat. Das war jetzt Unistadt geworden.

Ich gehe durch Unistadt und sehe alte Plätze. Vor meinen Augen füllen sie sich mit Erlebnissen, Begebenheiten, Menschen. An brüllend heißen Tagen, an Schneematschabenden: Ich bin viel unterwegs gewesen, kaum ein Winkel der Stadt, zu dem ich nichts erzählen könnte!
Wie aufregend es damals gewesen ist, einfach zu Fuß – und später per Bus – ziellos daherzumarschieren und die Stadt zu entdecken! Immer neue Straßen, Plätze, Winkel. Winzige Besonderheiten, Wunderschönes und Schäbiges, manchmal besser nur am Tag hast Du mich verstanden!?

Ich gehe durch die Straßen meiner Uniheimat und erinnere mich, wie sehr, wie unfassbar ich sie nach unserem Umzug vermisst habe. All das, was mich am Anfang erschreckt hatte, war mir lieb geworden. Das Dorfkind hat sich schlafen gelegt und ist als Stadtpflanze wieder aufgewacht.

Der Umzug nach Groß-Bummelsdorf war schlimm. Wieder einmal. Wieder alles anders, wieder alles neu. Nur weniger aufregend dieses Mal. Weniger laut, weniger voll. Zu entdecken gibt es Vieles, aber wen interessieren schon Felder und Wälder?
Unistadt fehlt mir. Messerscharf, bohrend, qualvoll. Denn diese Stadt steht nicht nur für sich, sondern auch für eine verdammt gute Zeit. Mein Studentenleben. Die ganzen Leute. Diese Stadt steht für einen ganzen Lebensabschnitt.
Ich bin nicht naiv: Diese Zeiten sind unwiderbringlich vorbei, werden nie wiederkommen!
Fast alle Unifreunde sind mittlerweile über ganz Deutschland, manche auch ins Ausland verstreut. Und ich bin keine Studentin mehr. Geschweigedenn Single oder ohne Kinder. Ich bin ein anderer Mensch geworden.
Die Zeiten lassen sich nicht zurückholen und wer in einer Zeit seine Heimat sieht, kann nur unglücklich werden.
Das tut weh, verdammt weh, aber man muss es akzeptieren, wenn man weiterleben will.

Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Sie war schön, aber sie war auch schlimm, aber das verdrängen wir.

Ich gehe durch die Straßen meiner Unistadt und so weh es auch tut: Ich erkenne, dass sie nicht mehr meine Heimat ist!

Aber wo ist sie dann?

Ich überlege. Wenn es nicht Urheimat ist und auch nicht Unistadt, dann bliebe ja nur noch …?

Ich bin recht schweigsam auf diesem Ausflug. In Groß-Bummelsdorf angekommen, gehe ich früh ins Bett.
Stehe am nächsten Morgen auf. Schicke Größtes zur Schule, winke ihm und seinen Weggefährten (mit denen jetzt übrigens alles super klappt! :-) ) hinterher, die ich alle beim Namen kenne.
Dann mache ich mich mit Mittlerem und Kleinstem auf den Weg in den Kindergarten. Treffe hier und da einen Nachbarn oder eine Nachbarin, plausche ein wenig.
Gehe anschließend noch mit dem Kleinsten zum Metzger, was einkaufen. Treffe auch hier bekannte Gesichter, Nachbarn, diese und jene Leute, andre Muttis. Mit einer gehe ich dann noch zur Bank, wir plaudern weiter, trinken spontan noch einen Kaffee zusammen.
Wieder daheim habe ich neue Nachrichten aus der Fußballgruppe des Größten. Schreibe zurück. Eine Mutter von Mittleres`Kindergartendfreund schreibt, hat eine Frage, wir verabreden uns mit Kindern.
Dann ist auch schon Zeit, Mittagessen zu machen.

Und in dem ganzen Gewusel und Nachrichten-Beantworten und Termine machen wird mir klar, was Euch sicher schon lange aufgefallen ist: Ich bin hier zu Hause.
Ich halte kurz inne und lächle. Es hat wieder einige Jahre gedauert, aber jetzt ist es geschafft! Ich habe Urheimat und Uniheimat, aber keine Heimatten mehr. Da gibt es das Dorf, die Straße, in dem mein Elternhaus steht und in dem ich aufgewachsen bin, liebe Nachbarn und Freunde. Die sich ohne mich verändert hat und das ist OK so. Und Unistadt, die mich so vieles gelehrt hat, und die für mich kein Ort mehr ist, sondern eine Zeit, an die ich mich gern erinnere.

Aber zerrissen zwischen verschiedenen Heimatten bin ich nicht. In meinem Herz ist nur Platz für eine und die ist hier. Ich bin endlich Zuhause angekommen.


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