“Streifzüge”, 50/2010
Wohl noch nie in der Geschichte des kapitalistischen Weltsystems konnte eine derartig stürmische Umwälzung eines Landes oder einer Region beobachtet werden, wie sie derzeit China erschüttert. Im Folgenden wird ein theoretischer Bezugsrahmen skizziert, der uns in die Lage versetzen soll, den Charakter und die Tendenz des stürmischen Auf- und Umbruchs der Volksrepublik China zu erfassen. In Anlehnung an Theoreme und Diskussionsbeiträge aus dem Umfeld der Weltsystemtheorie wird argumentiert, dass die Modernisierungsdynamik in China letztendlich auf einen epochalen Umbruch zustrebt, der nur als Widerspruch begriffen werden kann: Das Reich der Mitte ist dabei, die Vereinigten Staaten als die globale kapitalistische Hegemonialmacht abzulösen. Doch zugleich ist dieser Umbruch im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr möglich.
Die Weltsystemtheorie begreift den globalen Kapitalismus nicht als ein geschichtsloses Kontinuum, sondern als Resultat eines konkreten sich wandelnden geschichtlichen Expansionsprozesses. Er entwickelt sich demnach im Zuge der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert, in deren Verlauf nach und nach alle Regionen in das entstehende System eingegliedert werden. Zugleich formt sich auch die die Welt prägende globale Machtstruktur aus: Sie besteht aus einem hoch entwickelten Zentrum, aus einer Art entwickelter, halbabhängiger Semiperipherie und aus der abhängigen und unterentwickelten Peripherie. Seit seiner Entstehung ist die bürgerliche Gesellschaft durch einen Mehrwertabfluss von der Peripherie ins Zentrum und hier insbesondere zu den Hegemonialmächten charakterisiert.
Die Expansion verläuft in Hegemonialzyklen: eine Macht erringt eine dominierende Stellung innerhalb des Systems, nach einer gewissen Dominanzperiode geht diese Macht in den imperialen Abstieg über und schließlich wird sie von einem neuen Hegemon abgelöst. Giovanni Arrighi identifizierte vier Hegemonialzyklen: „Einen genuesisch-iberischen Zyklus, der die Spanne vom 15. bis ins frühe 17. Jahrhundert abdeckte; einen holländischen Zyklus vom späten 16. bis ins späte 18. Jahrhundert; einen britischen Zyklus von der Mitte des 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert und einen US-amerikanischen Zyklus vom späten 19. Jahrhundert bis zur letzten finanziellen Expansion.“ (Arrighi Giovanni, Adam Smith in Beijing, S. 292)
Territoriale Progression
Auffällig ist die „Progression“ der Hegemonialmächte, die mit der globalen Expansion des kapitalistischen Weltsystems einhergeht. Sie verläuft von den italienischen Stadtstaaten mit „ihrer kosmopolitischen Geschäftsdiaspora“ über den niederländischen „Protonationalstaat (die Vereinigten Provinzen) und ihren amtlich zugelassenen Aktiengesellschaften zu einem multinationalen Staat (Großbritannien) und seinem den Globus umspannenden tributpflichtigen Empire bis hin zu einem Nationalstaat von Kontinentalgröße (den USA) und seinem weltumspannenden System transnationaler Konzerne“ und Militärstützpunkte. (op.cit., S. 297)
Ein jeder Hegemonialzyklus hat nach Arrighi zwei Phasen: Zuerst findet eine Phase des imperialen Aufstiegs statt, die durch eine „materielle Expansion“, also durch die Dominanz des Handels oder der warenproduzierenden Industrie der neuen Hegemonialmacht geprägt ist. Nach dem Ausbruch einer – durch Überakkumulationsprozesse ausgelösten – ökonomischen „Signalkrise“ setzt die Phase des imperialen Abstiegs ein, die mit einer finanziellen Expansion und der Dominanz der Finanzindustrie einhergeht und dem absteigenden Hegemon nochmals eine letzte ökonomische und imperiale Blütezeit beschert.
Schließlich gibt es eine Niedergangsphase, in der der alte Hegemon von der kommenden, aufsteigenden Hegemonialmacht abgelöst wird. Diese Progression von Hegemonialmächten ist laut Arrighi ein direktes Resultat der Expansion des kapitalistischen Weltsystems, da diese immer mehr Ressourcen zur Aufrechterhaltung ihrer Hegemonialposition mobilisieren müssten. Der Wechsel zwischen zwei Hegemonialzyklen gehe deswegen oftmals mit einer Verschuldung der absteigenden Hegemonialmacht bei dem aufsteigenden Hegemon einher, wie Arrighi am Beispiel der zunehmenden ökonomischen Abhängigkeit Großbritanniens von den USA während des Ersten Weltkrieges darlegt. Großbritannien bildete ein riesiges Handelsdefizit gegenüber den USA aus, „die Munition und Nahrungsmittel im Wert von Milliarden von Dollar an die Alliierten lieferten, aber wenige Güter dafür erhielten.“ Ähnlich agierte übrigens auch Großbritannien in seiner Rolle als „Bankier“ der Antinapoleonischen Koalition rund hundert Jahre zuvor.
Maßgeblich angetrieben wird diese Abfolge von Hegemonialzyklen durch den Prozess der Kapitalakkumulation. Arrighi verwendet deshalb den Begriff der „systemischen Zyklen der Akkumulation“. Die materielle Expansion ist durch ein hohes Wachstum und hohe Profitraten im Handel und der Produktion gekennzeichnet, wodurch die Profite „mehr oder weniger routinemäßig in die weitere Expansion reinvestiert“ würden. Den Übergang von der materiellen zur finanziellen Phase der Expansion einer Hegemonialmacht markiert die besagte „Signalkrise“, die durch Überakkumulationsprozesse ausgelöst werde: „Im Laufe der Zeit jedoch führt die Investition einer stetig anwachsenden Masse von Profiten in Handel und Produktion zu einer Kapitalakkumulation weit über das hinaus, was in den An- und Verkauf von Waren reinvestiert werden kann, ohne die Gewinnspannen drastisch zu verringern.“ Das Kapital fließt in den Finanzsektor, es findet eine krisenhafte, spekulationsgetriebene Akkumulation von überschüssigem Kapital in „liquider Form“ in der Finanzsphäre statt. (op.cit., S. 292ff.) Die Hegemonialmacht, die zuvor als „Werkstatt der Welt“ ihre dominante Stellung erlangt, verwandelt sich in den „Finanzplatz der Welt“. Es ist nicht zuletzt die globale Investitionstätigkeit des Weltfinanzzentrums der im Abstieg befindlichen jeweiligen Hegemonialmacht, die als ökonomische Initialzündung fungiert und die Phase der „materiellen Expansion“ des aufsteigenden Hegemons auslöst.
Das Kapital als prozessierender Widerspruch
Welche Ursachen lösen diese systemischen Überakkumulationskrisen aus? Die Abfolge von Hegemonialmächten geht auch mit einem Wechsel des Akkumulationsregimes – also der dominierenden Sektoren innerhalb der Ökonomie – des Kapitalismus einher. Bei der kapitalistischen „Keimform“ des genuesisch-iberischen Zyklus handelte es sich um ein „transnationales Handels- und Finanznetzwerk“ von „Diaspora Kapitalisten“, das Arrighi zufolge sich darauf beschränkte, die „kriegerischen und staatsbildenden Aktivitäten“ der iberischen Herrscher „geschäftlich und finanziell zu ermöglichen“. Der holländische Zyklus ist von der Dominanz des Handelskapitals geprägt. Mit dem Aufstieg Großbritanniens ging die industrielle Revolution einher: „Während der holländische Umschlagplatz tatsächlich einer des Handels war, war der britische Umschlagplatz auch ein Industrieller, die Werkstatt der Welt.“ Die USA erlebten im Gefolge des gesamtgesellschaftlichen Durchbruchs von Fordismus und Taylorsystem ihren imperialen Aufstieg. Technologische Durchbrüche mannigfaltiger Art und eine durch die gesamtgesellschaftliche Anwendung des Taylorsystems rasch ansteigende Produktivität wie auch Massenkaufkraft traten in Wechselwirkung.
Um diesen Wandel von Hegemonialmächten und Akkumulationsregimes zu verstehen, hilft vielleicht die Bestimmung des Kapitalverhältnisses als eines „prozessierenden Widerspruchs“ wie sie von Marx geprägt wurde. Da gibt es einerseits den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit: Das Kapital ist bekanntlich in der Produktion beständig bestrebt, die Kosten der Ware Arbeitskraft zu senken, obwohl gerade hierdurch gesamtgesellschaftlich seine Möglichkeiten zur Realisierung des erzeugten Mehrwerts auf dem Markt durch Kaufkraftverluste verringert werden. Ein weiterer fundamentaler, aus der permanenten konkurrenzvermittelten Steigerung der Produktivität resultierender Widerspruch trägt hingegen zu einer latenten Instabilität des Gesamtsystems bei. Durch Produktivitätssteigerungen können einzelne Kapitalisten in einem Industriezweig Konkurrenzvorteile (Extraprofite) erzielen, bis diese neuen Produktionstechniken verallgemeinert werden. Hiernach beginnt das Spielchen von vorne – wieder finden Innovationen bei einzelnen Unternehmen statt, die später nachgeahmt werden und zu allgemeinen Produktivitätssteigerungen führen. Hieraus resultiert eine beständig steigende Produktivität und die Abnahme der notwendigen Arbeitskräfte in einem gegebenen Industriezweig. Je länger ein solcher Industriezweig (zum Beispiel Textilindustrie oder Schwerindustrie) besteht, desto stärker wandelt sich seine Reproduktionsstruktur von einer arbeitsintensiven- zu einer kapitalintensiven Produktion.
Dieser Widerspruch kann nur im „Prozessieren“, in einer permanenten Expansionsbewegung aufrechterhalten werden, die bislang in drei Dimensionen vonstatten ging. Zum einen ist die „periphere“ oder „äußere Expansion“ des kapitalistischen Weltsystems zu nennen, die in der Eingliederung peripherer Regionen in den Weltmarkt zwecks Kapitalexport und Rohstoffimport durch imperiale Mächte bestand. Hinzu kommt die „technologische Expansion“, da der technologische Fortschritt – der in den bestehenden Industriezweigen zu Rationalisierung führt – auch zur Herausbildung neuer Wirtschaftszweige beiträgt, die wiederum Arbeitskräfte verwerten und Felder zur Kapitalverwertung eröffnen. Daneben bestehen noch Möglichkeiten der „inneren Expansion“, bei der neue Gesellschaftsfelder der Kapitalverwertung erschlossen werden (Kulturindustrie, Tourismus, Massenkonsum). Die von Arrighi diagnostizierten Signalkrisen treten nur dann ein, wenn diese mehrdimensionale Expansionsbewegung nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Sobald der Kapitalverwertung keine neuen Felder der Expansion zur Verfügung stehen, verlagert sie sich in die Sphäre der Finanzmärkte. Dies ist seit den 70er Jahren in allen avancierten Ländern des kapitalistischen Zentrums – insbesondere beim Hegemon USA – der Fall.
China künftiger Hegemon?
Aufgrund der obigen Ausführungen scheint tatsächlich nur noch China als ein künftiger Hegemon in Frage zu kommen. Die Parallelen zu früheren Hegemonialzyklen sind unübersehbar: Zum einen ist da die von Arrighi konstatierte Progression von Hegemonialmächten, bei der eigentlich nur noch das Reich der Mitte über potenziell höhere Ressourcen – vor allem in Bezug auf seinen Binnenmarkt – gebietet als die USA. Diese Tendenz zur Progression, zum beständigen Anwachsen der Hegemonialmacht in der Geschichte des kapitalistischen Weltsystems könnte man auch als eine weitere, vierte Form der Expansion deuten, mittels derer der „prozessierende Widerspruch“ abgefedert wird, der dem Kapital innewohnt. Man könnte von einer „hegemonialen Expansion“ sprechen, in deren Verlauf immer größere Territorien und auch Menschenmassen zur Aufrechterhaltung der Stellung einer Hegemonialmacht – wie auch der Kapitalakkumulation – notwendig sind.
Längst schon wird China im veröffentlichten Diskurs aufgrund seines – potenziell! – riesigen Binnenmarktes als die kommende Konjunkturlokomotive der Weltwirtschaft gehandelt. Dadurch würde das Reich der Mitte in die Rolle schlüpfen, die von den USA in den vergangenen Jahren eingenommen wurde. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine Signalkrise, die zu der „Finanzialisierung“ der Wirtschaft der USA führte. Auf diese systemische Überakkumulationskrise, die aus der Erschöpfung des fordistischen Modells resultierte, folgte der Aufbau des Finanzsektors, der die USA (durch Defizitbildung) tatsächlich für eine gewisse Zeit zu einer Scheinblüte führte. Die Dominanz der Wallstreet ging mit einer schleichenden Deindustrialisierung weiter Teile der USA Hand in Hand. Es war nicht zuletzt amerikanisches Kapital, das China als Billiglohnstandort nutzte und somit wichtige Impulse zur Initiierung der Phase der „materiellen Expansion“ der Volksrepublik zulieferte.
Der Aufstieg der chinesischen (Export-)Industrie und die (schuldenfinanzierte) Scheinblüte der USA, die durch die Dominanz des Finanzsektors ermöglicht wurde, bedingen sich gegenseitig. Das riesige Handelsdefizit der USA gegenüber China dokumentiert dies. Dieser Prozess wird auch von einer ausufernden Verschuldung des absteigenden Hegemons USA begleitet. Peking kaufte im enormen Umfang US-Staatsanleihen auf, wodurch de facto China den amerikanischen „Krieg gegen den Terror“ mitfinanzierte. Auch hier sind die Parallelen zur ausartenden Verschuldung Großbritanniens in den Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts unübersehbar.
Die halsbrecherische Geschwindigkeit, mit der China wächst, ist größtenteils gerade dieser Krisensymbiose zwischen den USA und dem Reich der Mitte geschuldet. Das vor allem durch Investitionstätigkeit gesteigerte Wachstum Chinas ist nur deswegen möglich, weil der chinesische Staat zuvor ungeheure Devisenreserven aufgrund des Handelsüberschusses mit den USA akkumulieren konnte. Umgekehrt bedeutet dies auch: Diese enorme Geschwindigkeit der chinesischen Industrialisierung verweist auf die ungeheuren Dimensionen der systemischen Überproduktionskrise, die sich in den Zentren des kapitalistischen Systems aufgebaut hat – und nun in diesem wahnwitzigen chinesischen Wachstum ein Ventil gefunden hat. Das seit der „Finanzialisierung“ des Kapitalismus in den 80ern in „liquide“ Form übergangene Kapital fließt vermittels des ungebrochenen pazifischen Defizitkreislaufs nach China, wo es durch umfassende – zumeist staatliche – Investitionstätigkeit für den Aufbau einer für Akkumulationsprozesse erforderlichen Infrastruktur verwendet wird.
Automobilmachung Chinas?
Bemerkenswert ist in diesem Kontext aber vor allem das Fehlen eines neuen Akkumulationsregimes, auf das sich eine Hegemonialstellung der Volksrepublik stützen könnte. Neben dem Exportsektor, dessen Außenhandelsüberschüsse letztendlich zur enormen staatlichen Investitionstätigkeit in China beitragen, wird dessen wahnwitziges Wachstumstempo binnenwirtschaftlich vor allem durch den Ausbau der Automobilindustrie befördert. In der Tat gilt ein Großteil der Investitionstätigkeit in China auch dem Aufbau einer entsprechenden Verkehrsinfrastruktur, wie sie auch in den fünfziger und sechziger Jahren in den westlichen Industrienationen aus dem Boden gestampft wurde.
Das Wachstum des chinesischen Automobilsektors ist historisch wohl einmalig. 2009 steigerte China seine Produktion gegenüber dem Vorjahr um ca. 3,5 Millionen Einheiten auf 13,8 Millionen Kraftfahrzeuge. Damit ist die Volksrepublik mit weitem Abstand – vor Japan, den USA und Deutschland – der größte Fahrzeughersteller der Welt. In Japan wurden 2009 rund 7,9, in den USA 5,7 und in der BRD 5,2 Millionen Autos fabriziert. (Verzehnfachung in zehn Jahren). Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass ein Großteil dieser Produkte in China bleibt, da im vergangenen Jahr nur knapp 370.000 in China gefertigte Autos exportiert wurden. Es findet eine „innere Expansion“ kapitalistischer Verwertungsfelder auf dem chinesischen Binnenmarkt statt, die sich in denselben Bahnen bewegt, wie in den fünfziger Jahren in den USA, Japan und Westeuropa. Mit einem Unterschied: China ist mit 1,3 Milliarden Menschen der bevölkerungsreichste Staat der Welt. Die „Progression“ zwischen der absteigenden Hegemonialmacht USA und dem potentiellen Nachfolger China besteht nicht in einer territorialen Vergrößerung, sondern gerade in diesem Mehr an „menschlichen Ressourcen“, die dem Verwertungsprozess in fordistischer Tradition als Produzenten und Konsumenten fungieren könnten. Selbst bei dem in der Volksrepublik herrschenden, sehr niedrigen Anteil des privaten Konsums am Bruttoinlandsprodukt, der 2008 in etwa bei 33 Prozent lag (zum Vergleich: in der BRD sind es 55 Prozent in den USA sogar 70 Prozent), werden in China seit über einem Jahr pro Monat im Schnitt mehr als eine Million Kraftfahrzeuge abgesetzt.
Innere und äußere Schranken
Dennoch – oder gerade wegen der Dominanz des fordistischen Industrialisierungsregimes – wird China aller Voraussicht nach nicht mehr die Vereinigten Staaten als neue Hegemonialmacht beerben können. Der Weltsystemtheoretiker Minqi Li verweist in seinem Werk „The Rise of China and the Demise of the Capitalist World-Economy“ auf die vielfältigen Hürden und auch Grenzen, auf die sowohl China als auch das kapitalistische Weltsystem derzeit stoßen. Zum einen würde der Aufstieg Chinas die hierarchische Aufteilung des Weltsystems in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie sprengen, da dies zu einer massiven Verschiebung der Machtverhältnisse führen würde, die diese Dreiteilung der Welt im Endeffekt aufheben würden. Chinas Aufstieg würde einerseits einen massiven Nivellierungsprozess zulasten der Zentren auslösen und auch eine forcierte Verelendung der Peripherie mit sich bringen. China verfügt auch nicht über die militärischen Kapazitäten, um im Gefolge der Auseinandersetzungen als neuer Hegemon hervorgehen zu können, die aus solch einer fundamentalen Erschütterung des Weltsystems resultieren würden.
Der potenzielle riesige Binnenmarkt Chinas bringt auch fundamentale Nachteile mit sich, da im Reich der Mitte ein besonders ungünstiges Verhältnis zwischen natürlichen Ressourcen und der enormen Einwohnerzahl herrscht. China kann allein schon deswegen nicht in die Rolle der USA als globale Konjunkturlokomotive schlüpfen, weil der damit einhergehende Energie- und Rohstoffverbrauch an natürliche Grenzen stößt. Es ist schlicht nicht so viel fossile Energie verfügbar, wie notwendig wäre, damit auch Chinas Bevölkerung ein ähnliches Konsumniveau erreicht, wie es jahrzehntelang in den USA vorherrschte.
Die bisherige rasante Industrialisierung Chinas ist – wie ausgeführt – von einem exportfixierten Industriesektor und enormer staatlicher Investitionstätigkeit geprägt, die im Endeffekt eine „Produktion von Raum“ (David Harvey) zur Optimierung künftiger Akkumulationsprozesse betreibt. Hier wirkte das chinesische Konjunkturprogramm, das mit einem Umfang von circa 750 Milliarden US-Dollar in etwa 14 Prozent des chinesischen BIP entsprach, als zusätzlicher Konjunkturtreibstoff. Dieser Industrialisierungsprozess verläuft aber im binnenwirtschaftlichen Kern – also jenseits der staatlichen Infrastrukturprojekte, die durch die Exportüberschüsse finanziert werden – entlang der besagten fordistischen Verlaufsformen, die vor allem von der „Automobilmachung der Gesellschaft“ (Robert Kurz) im Westen getragen wurden. Dieses geschieht derzeit in China aber auf einem weitaus höheren allgemeinen Produktivitätsniveau, als es in den fünfziger Jahren in Europa, Japan oder den USA vorherrschte. Es resultiert eine zusätzliche Instabilität dieses Prozesses: Er ist gewissermaßen „prekär“. Dieses hohe Produktivitätsniveau trägt zu einem regelrechten Wachstumszwang der chinesischen Industrialisierung bei. Selbst die Führung in Peking gibt die minimale jährliche Wachstumsrate mit ca. acht Prozent an – unterhalb dieser Marke drohen die bereits bestehenden sozialen Spannungen außer Kontrolle zu geraten. Was wird passieren, wenn die schuldenfinanzierte amerikanische Nachfrage endgültig wegbricht, die immer noch den chinesischen Exportsektor am Leben erhält? Die Außenhandelsüberschüsse Chinas, die 2009 merklich sanken, sind erneut im Steigen begriffen. Offensichtlich gewinnt der pazifische Defizitkreislauf gerade deshalb wieder an Dynamik, weil die stimulierenden Effekte des besagten chinesischen Konjunkturpakets langsam abflauen, dass bei Krisenausbruch von Peking aufgelegt wurde. Somit liegt die Vermutung nahe, dass selbst das chinesische „Wirtschaftswunder“ auf eine defizitäre Finanzierung angewiesen ist – entweder geschieht dies über die Defizite der USA aus dem pazifischen Defizitkreislauf, oder über die Konjunkturprogramme Pekings.
Es ist absehbar, dass dieser halsbrecherische Industrialisierungsprozess aufgrund der systemischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Widersprüche mittelfristig nicht aufrecht erhalten werden kann. Bei dem Übergang in einen chinesischen Hegemonialzyklus stößt das kapitalistische Weltsystem an seine systemischen und ökologischen Grenzen.