Am Mittwoch empfing mich eine Erzieherin beim Abholen mit den Worten, dass die Kleine ja heute mal Zähne gezeigt habe. Ich nahm das metaphorisch und meinte, sie hätte sich mal richtig lautstark durchgesetzt oder so. Nein, sie habe ein anderes Kind gebissen. Mir rutschte die Kinnlade runter. Gebissen? Die Kleine? Keines meiner Kinder hat jemals in der Kita gebissen. Sie sind dort sehr ruhig, zurückhaltend, angepasst und gehen Konflikten eher aus dem Weg. Ich fragte nach. Die Erzieherin hatte die Situation gar nicht selbst beobachtet und konnte nur weitererzählen, dass ein anderes Mädchen der Kleinen etwas weggenommen und diese daraufhin zugebissen habe. Sie hätten dann die Kinder getrennt und später in Ruhe besprochen, dass das nicht geht, sondern was sie stattdessen machen soll. Am Nachmittag hat es dann wohl noch eine andere, ähnliche Konfliktsituation gegeben, wo die Kleine sich mit Hilfe ihrer besten Freundin aber "gewaltfrei" gegen das gleiche Mädchen durchgesetzt habe.
Am Abend befragte ich die Kleine nebenbei, um herauszufinden, was sie dazu sagt. Irgendwie passte nichts so richtig zusammen. Sie berichtete, dass das andere Mädchen ihr etwas weggenommen hat und dann aber ein drittes Kind das Mädchen gebissen hat, nicht sie. Sie bestritt es nicht direkt, behauptete aber steif und fest, ein Junge hätte gebissen. Normalerweise ist sie sehr zuverlässig und reflektiert in ihren Erzählungen. Ich fragte mich auch in dem Moment, ob ein Kind von 2 3/4 Jahren schon bewusst ein anderes Kind beschuldigen kann für etwas, von dem es weiß, dass es nicht gut ist. Was das Beißen angeht: der Große hat nie gebissen. Die Kleine hat uns früher manchmal aus Liebe und Überschwang gebissen, noch nie aus Aggression oder Abwehr. Deshalb wunderte es mich sehr und ich wollte die Kleine auch nicht für etwas zur Rechenschaft ziehen, wofür sie vielleicht gar nicht verantwortlich war. Ich beließ es also dabei.
Ich schrieb der Mama vom gebissenen Mädchen abends eine Nachricht, ob sie Näheres wüsste, aber sie hatte auch nur die gleichen Informationen wie ich. Zum Glück fand sie es nicht weiter tragisch und meinte, "passiert halt". Am nächsten Tag beim Abholen traf ich erst eine andere Erzieherin, die ich fragte, ob sie die Situation miterlebt hatte - nein. Stattdessen erzählte sie mir begeistert Begebenheiten mit der Kleinen aus dem Kitaalltag, von denen sie im positiven Sinne sehr erstaunt war. Zitat: "So etwas macht kaum ein anderes Kind in dem Alter." Danach ging ich in den Garten, um die Kinder zu holen. Da kam die Bezugserzieherin der Kleinen schon auf mich zu und berichtete von sich aus:
Die Kinder hatten wohl mit Schüsseln voll Reis gespielt, geschüttet und sortiert. Es war sehr eng am Tisch und einige Kinder, darunter das gebissene Mädchen, beugten sich immer wieder vor und schnitten damit den anderen Kindern das Aktionsfeld ab. Es gab allerdings keinen Konflikt um weggenommenes Spielzeug. Scheinbar wurde es der Kleinen, die neben dem Mädchen saß, irgendwann zu bunt und sie muss sie wohl in den Arm gebissen haben. Meine Frage, ob die Erzieherin dies explizit gesehen habe, bejahte sie zwar, allerdings halte ich es ehrlich gesagt für schwierig, bei 30 Kindern jede Situation konkret im Auge zu behalten, gerade wenn Gedrängel am Tisch herrscht. Jedenfalls war es nach ihrer Aussage kein Beißen aus Aggression, sondern die Kleine fühlte sich bedrängt und von ihrem Blick auf das Geschehen behindert. Sie trennten die Kinder und klärten die Situation. Und am Nachmittag gab es dann wohl den besagten Spielzeugkonflikt mit dem gleichen Mädchen, den die Kleine mit ihrer Freundin friedlich zu ihren Gunsten lösen konnte.
Ich berichtete noch einmal, dass die Kleine früher lediglich aus Gefühlsüberschwang selten mal und dann nur uns gebissen habe, aber nie aus Konflikten heraus. Sie meinte auch, das sei ja nicht mehr das typische Beißalter, in dem die Kinder noch nicht richtig kommunizieren können und deshalb zubeißen. Die Kleine könne sehr gut kommunizieren und setzt sich wohl auch durch. Es scheint sich also tatsächlich um ein Beißen aus Bedrängnis gehandelt zu haben. Eigentlich merkwürdig, weil der Kleinen körperliche Nähe nicht so viel ausmacht, wie beispielsweise dem Großen. Ganz im Gegenteil, sie liebt es, mit uns zu kuscheln und ganz nah bei mir zu sein. Es muss sie also gewaltig der Hafer gestochen haben. Das gebissene Mädchen nahm es wohl relativ gelassen und kam sogar später von sich aus wieder auf die Kleine zu.
Für die Erzieherinnen war der ganze Vorfall völlig undramatisch, sie wissen, dass die Kleine nicht aggressiv ist. Für mich war es einfach sehr überraschend und nicht unbedingt schlüssig. Natürlich ist meine Kleine keine Heilige, sondern ein normales Kind, was auch mal beißen kann. Aber würde ein Kind in dem Alter (2 3/4) das nicht auch zugeben, statt ein anderes Kind als Täter zu benennen? Können Kinder in dem Alter überhaupt schon bewusst lügen? Ich will auch die Aussage der Erzieherin gar nicht in Zweifel stellen, halte es aber wie gesagt für eher unwahrscheinlich, dass sie bei 30 Kindern genau den Vorgang beobachtet hat, zumal die beiden beteiligten Kinder überhaupt nicht als Aggressoren bekannt sind, auf die man ein Auge werfen müsste. Zwei andere befragte Erzieherinnen haben den Vorfall nicht mitbekommen. Die Kleine ist kein körperlich aggressives Kind und kann sich eigentlich gut mit anderen Mitteln (Kreischen) Gehör verschaffen. Es passt nicht so richtig zusammen. Wie auch immer: es war das erste Mal in 4 Jahren, dass ich mit solch einer Information aus der Kita konfrontiert wurde, und entsprechend überrascht war ich. Es mag so passiert sein. Aber ein leiser Zweifel bleibt.