Hartz-IV, Verfassungsfragen und Marc Beise

Von Stefan Sasse
In der Süddeutschen Zeitung findet sich in Form eines Pro-Contra-Doppelartikels (wirklich eine journalistische Form, die deutlich öfter angewendet werden sollte) ein Plädoyer für bzw. gegen die Hartz-IV-Reform, deren Konzept Ursula von den Laien nun vorgelegt hat. Für den Fall, dass es jemandem bisher entgagngen ist: fürstliche fünf Euro sollen die Erwachsenen-Regelsätze steigen, weil man die Kosten von Internet und Praxisgebühr nun eingepreist hat, während dafür Alkohol und Zigarettenpauschale gestrichen wurde, in der richtigen Erkenntnis, dass man dafür an den Niedriglöhnerstammtischen (oder zumindest in der Mittagspause, falls der Lohn mal wieder nicht für ein Bierchen in der Kneipe reicht) billige Zustimmung ernten kann. Der Regelsatz für Kinder, an dem das ganze Urteil zu einem Gutteil aufgehängt wurde, hat sich überhaupt nicht verändert. Die Pro-Position nimmt der übliche Verdächtige Marc Beise ein, während Heribert Prantl dagegen argumentiert.
Heribert Prantl entdeckt in regelmäßigen Abständen sein soziales Gewissen, um es dann wieder für ein paar Wochen in einer Kiste zu verstauen; liest man sich durch seine letzten Artikel, kann man sich zumindest diesen Eindrucks nicht erwehren. Seine Contra-Darstellung zielt hauptsächlich darauf, dass das Arbeitsministerium die Zahlen so ausgemauschelt und nun schnoddrig auf den Tisch geknallt hat, während die Berechnungsweise immer noch unbekannt ist. Als ob die reine Art der Veröffentlichung das relevanteste Kritikkriterium wäre! Das erinnert an all die Knallköpfe, die nicht müde werden zu erklären wie toll die Agenda2010 war und dass es nur einer besseren Vermittlung bedurft hätte, damit das ganze tumbe Volk das auch begreift, eine Ansicht, die wahrlich schmerzhaft wohl erst dadurch wird, dass sie auf krude Art wahr ist.
Marc Beise dagegen, das wandelnde schwarze Kompetenzloch in Form eines Wirtschaftschefredakteurs mit chronisch unaufgeräumten Büro (zu bestaunen in seiner Videokolumne "Summa summaris") argumentiert für den Beschluss. Dass er noch einmal deutlich macht, dass das BVerfG keine Beitragserhöhung in seinem Urteil notwendig machte, war zu erwarten. Damit hat er formal natürlich Recht. Es sei "um das Wohl der Kinder und mehr Transparenz" gegangen. Und beides sei durch die Regelung gewährleistet. Mit dem Reform hält sich Beise jedoch ansonsten gar nicht weiter auf sondern verkündet einmal mehr, dass Steigerungen bei Hartz-IV ganz und gar schädlich seien, da sie "falsche Anreize" setzen würden, da Hartz-IV sonst in bedenkliche Nähe zu den Niedriglöhnen käme: "Erhöht man die Sätze zu stark, wird die Arbeitslosigkeit steigen, und das kann ja niemand wollen".
Beise denkt dabei wieder einmal in den Kategorien eines wahren wirklichkeitsfernen Kategorien eines wahren Marktradikalen und übersieht dabei geflissentlich, dass die von ihm postulierte Wirkung überhaupt nicht existiert: wenn Hartz-IV auf, sagen wir 401 Euro erhöht würde und der Untergang des Abendlands überstanden ist, besteht immer noch keine Wahlfreiheit für Hartz-IV-Empfänger zwischen Niedriglohnjob und Stütze, denn wer ein zumutbares Arbeitsangebot der Agentur (Übersetzung: jedes) ablehnt, dem wird Hartz-IV um über 30% und im Wiederholungsfall sogar ganz gekürzt. Von "falschen" oder gar "gefährlichen" Anreizen kann also überhaupt keine Rede sein. Beise postuliert das alte, veraltete und vollkommen irreale Bild von einem funktionierenden Arbeitsmarkt, auf dem die Arbeitssuchenden rational dem Leitbild des homo oeconomicus entsprechend die Entscheidung zwischen Arbeit und Freizeit auf Basis des finanziellen Ertrags treffen. Das aber trifft einfach vorne und hinten nicht zu.
Doch den eigentlichen Knackpunkt verfehlen sowohl Beise als auch Prantl, was beim einen keine Sekunde überrascht - findet er einen Knackpunkt doch selbst dann nicht, wenn man ihn mit der Nase draufdrückt -, beim gerade in Verfassungsfragen eigentlich sensiblen Prantl dann aber doch. Denn einer der Punkte, an denen sich das BVerfG-Urteil maßgeblich aufhängt, war doch die Berechnungsweise des Regelsatzes, weil die Regierung völlig willkürlich einen bestimmten Betrag festsetzte und solange an einem Fantasie-Warenkorb herumrechnete, bis es passte. Der Satz für Kinder wurde dann einfach anteilig festgesetzt. Genau das hat das BVerfG maßgeblich kritisiert, und ja, Beise hat Recht: damit ist keine Erhöhung zwingend vorgesehen.
Nur, die lässt sich eigentlich nicht vermeiden. Der Warenkorb, den Rot-Grün 2003 zusammengebastelt hat, war ja schon damals blanker Unfug; heute hat schon allein die Inflation dafür gesorgt, dass die Waren teurer sind. Noch einmal: das BVerfG hat angemahnt, dass der Gesetzgeber nicht nach einer selbst gesetzten Zielmarke rechnen dürfte, sondern den realen Grundbedarf ermitteln muss. Nur, genau das hat Schwarz-Gelb wiederum nicht getan. Horst Seehofer polterte bereits vor Abfassung der finalen Summe, der Satz dürfe überhaupt nicht steigen; Schäuble stieß ins selbe Horn, während von den Laien erklärte, dass man signifikant unter 20 Euro bleiben würde. Nun hat man es geschafft, eine Erhöhung von fünf Euro festzustellen, was nur möglich war indem man den Grundbedarf für Tabak und Alkohol strich. Ob das rechtens ist sei einmal dahingestellt; es dient jedoch einzig dem Ziel, die Kostensteigerung gering zu halten. Am auffälligsten gegen das BVerfG-Urteil verstößt die Regierung aber beim Regelsatz für Kinder.
Noch einmal: der anteilig auf Basis einer Fantasiezahl festgelegte Kinderregelsatz sollte dem tatsächlichen Bedarf der Kleinen entsprechend gestaltet werden. Im Gesetzesentwurf von den Laiens aber ändert sich dieser Betrag überhaupt nicht! Er ist auf Heller und Pfennig gleich wie vorher. Das glaubt Schwarz-Gelb doch wohl selbst nicht. Ein völliger Fantasiebetrag ändert sich keinen Cent, wenn man ihn vernünftig berechnet? Es dürfte spannend werden, wenn die Berechnungen vom Ministerium, die bisher geheim gehalten werden, endlich auf dem Tisch liegen. Die Opposition, deren Zustimmung die Gesetze wegen der Bundesratsmehrheitsverhältnisse bedürfen, hat schon einmal vorsorglich Widerstand angekündigt. Sehen wir einmal, was daraus wird. Eventuell war der ganze Berechnungskäse nur ein taktisches Spiel, um die Verhandlungsbasis mit der Opposition möglichst niedrig ansetzen zu können.

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