Harstad. Max, Mischa & …

Von Masuko

Wie soll man über einen Roman schreiben, der mehr als 1.200 Seiten umfasst? Ich habe mir gedacht: so kurz wie möglich. Denn dieses Buch muss man selbst lesen. Idealerweise unbefangen und unvorbereitet.

Johan Harstad ist ein norwegischer Autor, geboren in Stavanger. Hier erlebt auch Max Hansen seine Kindheit. Besonders beliebt sind Kriegsspiele, inspiriert durch Coppolas Vietnam-Film Apocalypse Now aus dem Jahr 1979. Max ist elf Jahre alt, als er diesen Film das erste Mal sieht. Szenen daraus ziehen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman. Warum ich auch hier beim Schreiben gerade The Doors mit ihrem unvergesslichen Song The End höre. Apocalypse Now und The End – das bildet für mich irgendwie eine Einheit. Und jetzt gehört auch Harstads Roman dazu.

Max Hansen ist noch ein Kind, als die Familie wegen eines besseren Jobs für den Vater 1990 in die USA geht. Daheim in Stavanger hatte er seine Freunde. Doch hier wird er zum totalen Aussenseiter. Auch wenn er die englische Sprache vorher gelernt hatte, scheinen die norwegischen Wörter ihn zu ersticken. Max leidet körperlich, wenn die Jungs draußen mit ihren BMX-Rädern herum jagen: … ich hätte nichts lieber getan, als zu ihnen hinauszugehen. Aber noch lieber hätte ich zu ihnen gehört (S. 135). Doch es gelingt ihm nicht. Und so bleibt er für alle der düstere Norweger. Bis er Mordecai begegnet. Mordecai scheint Apocalypse Now zu kennen und zu wissen, wer Kurtz ist. Ganze Monologe kann er frei sprechen. Max ist fasziniert. Es ist der Beginn einer ganz großen Freundschaft. Beide teilen die Leidenschaft für das Schauspiel, beider Wege gehen in der Zukunft in diese Richtung.

Das Mädchen Mischa übrigens taucht erst nach fast 400 Seiten in der Geschichte auf. Für eine geduldige Leserin wie ich es bin, überhaupt kein Problem, denn meist packte die Story mich hundertprozentig. Längere Monologe über Theater, Kunst und Film muss man aber aushalten können. Irgendwie wusste ich ja immer, wenn ich diese Monolog-Klippe geschafft habe, kommt wieder eine besonders grandiose Szene. Die erste Begegnung von Max und Mischa beispielsweise: Und da war sie … Was wäre gewesen, wenn ich jetzt in Norwegen gewohnt hätte … (S. 356). Max findet sie nicht nur schrecklich hübsch mit ihrem dunklen Haar und den sonnengebräunten langen Armen, sondern entdeckt eine Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Shelley Duvall und deren unergründlichem Lächeln in Robert Altmans Film Brewster McCloud von 1970. Mischa ist Künstlerin und lebt in Brooklyn. Beide verlieben sich ineinander.

Und dann ist da noch Owen, Max‘ Onkel in Manhattan. Er lebt im berühmten The Apthorp – einem zwischen 1906 und 1908 erbauten monumentalen Wohnkomplex zwischen Broadway und West End Avenue. Mit Owen betritt eine vierte extrem interessante Roman-Figur diesen Kosmos. Auch er hat vor vielen Jahren Norwegen verlassen, hatte in Stavanger davon geträumt, der neue Charlie Parker oder Thelonious Monk zu werden. Er ist wegen des Jazz in die USA gegangen. Anfangs läuft es dank seines talentierten Klavierspiels finanziell relativ gut für ihn, doch irgendwann nicht mehr. Warum er schließlich für sechs Monate nach Vietnam geht. Von dieser Zeit erzählt Owen im Kapitel Lektion in der Kunst des Fallens und erlöst mich auf Seite 957 endlich von meiner grenzenlosen Neugier. Denn dass er ein Vietnam-Veteran ist, beschäftigt Max geradezu obsessiv von Kindheit an. Nur traut er sich nie, zu fragen. Owen wird schließlich zu einer Art Vater-Ersatz für Max. Viele Jahre leben und arbeiten Max, Mischa und Owen gemeinsam in der unvorstellbar großen Wohnung im Apthorp Building. Eine harmonische Künstler-WG, in welcher auch Mordecai teilweise wohnt.

Freundschaft, Liebe, Krieg, Familie, Kunst, Musik, Theater – das sind ganz grob umrissen die großen Themen, die Harstad kunstvoll miteinander vermischt.
Norwegen, Vietnam, die USA und ganz besonders New York in den Achtziger und Neunziger Jahren sind die Orte, an die der Autor uns entführt. Etwas mehr als zwei sehr intensive Wochen habe ich mit dem Roman verbracht. Habe mit Max, Mischa, Mordecai und Owen gelebt, geliebt und gelitten. Es ist mir unendlich schwer gefallen, diesen einzigartigen Kosmos zu verlassen. Selten hat ein Roman mich emotional und sprachlich so sehr fasziniert und überwältigt. Und als am Ende der Story ein Fremder zu Max sagt: Well. This is for us! – da erinnere ich mich an das erste Kapitel und an eine Szene in Forus, in Stavanger, warum ich sofort und sehr gern wieder von vorn mit dem Lesen begonnen hätte.
Stattdessen suche ich nach Rezensionen oder Interviews. Und finde ein paar spannende Fragen vom Rowohlt Verlag an Johan Harstad. Gefragt, was er sich für seine Leser*innen wünscht, antwortet er:

…natürlich hoffe ich sehr, dass die Menschen ihre Lektüre als lohnenswert erachten. Vielleicht auch, dass sie sie ein wenig glücklicher oder zufriedener oder sogar weiser macht. Vielleicht auch sichtbarer. Denn mein Buch handelt von gewöhnlichen Menschen und dem alltäglichen Leben, das wir alle kennen, und wenn man es liest und eine Verbundenheit spürt, würde ich mich darüber sehr freuen. Wenn sie also etwas weiser und ein wenig unterhalten wurden, bin ich glücklich und zufrieden.

Vielleicht ist ja genau das die Stärke dieses Romans. Dass er von ganz gewöhnlichen Menschen erzählt, die alle irgendwie kreativ sind – in der Kunst, im Theater, beim Film oder der Musik. Es sind keine Helden, doch ich fühle mich ihnen nahe und sehr sehr verbunden. Danke an den Verlag für das Leseexemplar.

Johan Harstad. Max, Mischa & die Tet-Offensive. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein (die Übersetzung wurde gefördert von NORLA – Norwegian Literature abroad). Rowohlt Verlag GmbH. Hamburg 2019. 1241 Seiten. 34 ,- €