Auf dieses Buch habe ich gewartet – lange gewartet. Es will das Thema Spiritualität, das seit der Aufklärung in die «Schmuddelecke der Gesellschaft» verdrängt wurde, ins helle Licht einer wissenschaftlichen, also möglichst unbefangenen Auseinandersetzung rücken. Und das Vorhaben scheint mir durchaus geglückt. – Die Würdigung eines klugen Buches, das über weite Strecken auch noch Lesevergnügen bereitet.
Harald Walach, der Autor des Buches, ist Professor für Forschungsmethodik komplementärer Medizin und Heilkunde sowie Leiter des Instituts für Transkulturelle Gesundheitsforschung an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Als Wissenschaftler ist er einer der wenigen, die es wagen, Spiritualität öffentlich und in wissenschaftlicher Absicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Mehr noch: In seiner Kernthese, die dem vorliegenden Buch zugrundeliegt, erachtet er eine reflektierte Spiritualität als Voraussetzung für den Fortgang unserer modernen Kultur: «Wenn wir die Aufklärung konsequent fortführen, ist eine undogmatische Spiritualität die natürliche, ja die notwendige Konsequenz für unsere Kultur und ihre Rationalität. Ohne eine solche Spiritualität sehe ich wenig Hoffnung, weder für unsere Kultur, noch für ihre Rationalität, noch für die Aufklärung.»
Diesen Satz darf man sich ruhig auf der Zunge zergehen lassen. Er ist Balsam für eine suchende Seele in der heutigen Zeit. Denn trotz aller Rationalität, trotz aller Wissenschaft und trotz allem vernunftgesteuerten Handeln steht unsere Kultur an einem Abgrund, der noch nie so tief war und unser Menschsein grundsätzlich in Frage stellt. Gleichzeitig züngeln von überall her religiöse und andere Fundamentalismen als Heilsversprechen und Rettungsanker hervor und versuchen die Menschen in einen Bewusstseinszustand zu versetzen, wie er vor dem geschichtlichen Auftreten der Aufklärung weit verbreitet gewesen sein muss. In diesem Spannungsfeld müssen wir heute – individuell wie kollektiv – einen Weg des Ausgleichs finden, der nicht nur die Argumente der Vernunft, sondern auch die innere Erfahrung der Transzendenz berücksichtigt – und kulturwirksam macht.
Wegmarken im Spannungsfeld zwischen Vernunft und Transzendenz
Harald Walach zeigt in seinem Buch die Wegmarken dazu auf. Und das tut er sehr sorgfältig und dennoch gut verständlich, ja, zuweilen mit ausgesprochenem Witz. Zunächst stellt er seine eigenen Voraussetzungen, seinen kulturellen und Wissenshintergrund dar und klärt grundlegende Begriffe wie Spiritualität, spirituelle Erfahrung, Religiosität, Glaube, Doktrin, Dogma usw. Allein die Reflexion und gegenseitige Abgrenzung dieser Begriffe sind ein kleines Meisterwerk und sorgen für transparente und wasserdichte Grundlagen seiner weiteren Ausführungen. Überhaupt werden durch das ganze Buch viele Begriffe, die dem Leser, der Leserin nicht oder nur vage bekannt sein könnten, an Ort und Stelle oder – etwas ausführlicher – in einem Glossar charakterisiert. Auch das dient einer wohltuend transparenten Gedankenführung.
Danach folgt ein Kapitel zur Geschichte der Wissenschaft und zum folgenreichen Durchbruch der Aufklärung. Diese ist für den Autor nicht ein rein historisches und damit abgeschlossenes Ereignis. Im Gegenteil: «Aufklärung bedeutet immer auch Befreiung von Bevormundung, vor allem von solcher Bevormundung, die sich auf vage Autorität, unvernünftige Systeme und reine Machterhaltung stützt und nicht dem Gemeinwohl dient. In diesem Sinn ist die Aufklärung auch heutzutage noch lange nicht am Ende.»
Hier kommt der Autor auf ein zentrales Missverständnis der Aufklärung zu sprechen: Doktrin und Dogma der damals übermächtigen Religion wurden durch die Aufklärung durchaus zu Recht zurückgedrängt. Beides hat im Licht der Vernunft nichts zu suchen. Doch man meinte, sich damit auch der Spiritualität, also des individuellen Bedürfnisses nach Transzendenz, entledigt zu haben, das sich jenseits von Doktrin und Dogma bewegt und auf individueller Erfahrung beruht. Doch so begriffene Spiritualität ist nichts grundsätzlich Vernunftsfremdes: «Denn Spiritualität als menschliches Grundbedürfnis lässt sich genausowenig wegdiskutieren wie [etwa] Sexualität. [...] Die letzten Dinge – die Frage nach Sinn und Zweck des Lebens, die Frage nach Aufgabe, Werten und ihrer Verfehlung – sie lassen sich nicht verdrängen. Sie kommen in Verkleidungen und Verzerrungen wieder auf uns zu.»
Wissenschaft des Bewusstseins
Walach spricht sich deshalb für eine undogmatische und reflektierte Spiritualität aus – und für eine Wissenschaft, eine Kartografie des Bewusstseins. Was er darunter versteht und wie das in den bestehenden Wissenschaftsbetrieb einfliessen könnte, skizziert er ausführlich in einem zentralen Kapitel des Buches. Eine undogmatische, reflektierte Spiritualität wäre mehr als «eine mögliche Beschäftigungstherapie für existenziell ausgehöhlte und alternde Zeitgenossen». Sie wäre «ein Erkenntnisprogramm, das idealerweise sogar das Erkenntnisprogramm der Wissenschaft im Sinn der Aufklärung ergänzen und erweitern könnte, ja sogar müsste».
In diesem Kapitel wird auch die spirituelle Praxis – also Konzentrationsübungen bis hin zu Kontemplation und Meditation – (natur-)wissenschaftlich beleuchtet: Was passiert neurologisch und physiologisch bei der Meditation? Lassen sich gesundheitliche Auswirkungen nachweisen? Und was geschieht psychologisch? Verändert sich die Persönlichkeit durch regelmässiges Meditieren? Diese und weitere Fragen werden zwar nicht abschliessend beantwortet. Es werden aber Wege aufgezeigt, wie mit ihnen wissenschaftlich umgegangen werden kann – und auch seit Jahren umgegangen wird. Es gibt also bereits gesicherte und ermutigende Erkenntnisse zur Wirkung von Meditation und spirituellen Übungen auf Körper, Seele und Geist des Menschen.
Da sich Walach einer «undogmatischen, reflektierten» Spiritualität verpflichtet fühlt, darf in diesem Buch ein Kapitel über «Zerrformen, Gefahren und Abgrenzungen» nicht fehlen. Denn zweifellos kommt man schnell auf intellektuelles Glatteis, wenn Spiritualität allzu pauschal abgehandelt wird, ohne den Begriff von Bedeutungszonen abzugrenzen, wo Vereinnahmung und Irrationalität herrschen und die Aufklärung einen schweren Stand hat. Eines der grossen Leistungen des Buches sehe ich gerade darin: Es ist ein verlässlicher, intellektuell redlicher Wegweiser in diesem Spannungsfeld von Irrationalität und individueller Erfahrung von Transzendenz, im Spannungsfeld von doktrinärer Wissenschaftsgläubigkeit und der Evidenz von meditativen Erfahrungen.
Spiritualität als Kulturfaktor
Am Schluss des Buches kommt der Autor auf die Sinnkrise der heutigen Welt zu sprechen, auf die vielfältige Gefahr des Fundamentalismus – und auf die Notwendigkeit, eine zeitgemässe Spiritualität in unserer Kultur zu verankern. Für die unterschiedlichsten Lebensbereiche sieht er darin ein Potenzial zur Bereicherung, ja Gesundung der Verhältnisse. So bringt zum Beispiel echte spirituelle Erfahrung notwendigerweise den Egoismus ins Wanken. Gier und Eigennutz haben keinen Bestand angesichts einer Einheiterfahrung in der Meditation. Das könnte zum Beispiel die Inspirationsquelle für intelligentere Konzepte des Wirtschaftens sein … «Man sollte sich durchaus das Denkexperiment erlauben, zu überlegen, was geschehen würde oder geschehen wäre, wenn ähnlich grosse Ressourcen in die genauere Erforschung des Bewusstseins, seiner Möglichkeiten und Grenzen, in die Bedeutung aussergewöhnlicher Erfahrungen des Bewusstseins und vor allem der spirituellen Einheitserfahrung und ihrer Nutzbarmachung investiert worden wäre. Möglicherweise hätten wir dann heute keine Atombombe, keine Atomkraftwerke, keine Sekundenkleber und Raumschiffe, aber vielleicht ein besseres Sozialgefüge, eine friedlichere Welt und andere Errungenschaften, von denen wir nicht einmal zu träumen wagen.»
Ja, auf dieses Buch habe ich gewartet – lange gewartet. Es zeugt von einem redlichen Erkenntnisbemühen und hinterfrägt Dogmen, die tief in unserer vermeintlich aufgeklärten Kultur verankert sind. Zudem gibt es Orientierungshilfe auf dem Weg zu einer reflektierten Spiritualität.
Harald Walach
«Spiritualität – Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen»
288 Seiten, Pappband mit Schutzumschlag
Drachen Verlag, Klein Jasedow 2011
ISBN: 978-3-927369-56-6
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