Die Institution Universität halte ich für eine der größten Errungenschaften der westlichen Kultur. Genial ist die Idee, Forschung und Lehre so eng zu vernetzen, dass daraus der wahrscheinlich stärkste Motor des Fortschritts wurde.
Darüber hinaus ist die Universität die Manifestation der bedeutendsten Fähigkeit des Menschen: des Lernens. In diesem Fall auf höchstem Niveau. (Die Voraussetzungen dafür im Schulwesen dürfen auch nicht unterschätzt werden, insbesondere die Gymnasien.)
Wie weit bestätigt die Geschichte der Universität nun diese Thesen?
Dazu las ich nun das 2008 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienene Buch „Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution“ von Hans-Albrecht Koch. Und erfuhr daraus, dass nicht alles, was ich für genuin universitär gehalten habe, schon immer so war. Der Gedanke, die Universität solle „Forschung und Lehre“ vereinigen, wurde so erst von Wilhelm von Humboldt entwickelt. (Hut ab vor diesem Mann!)
Paris, Bologna, Oxford
Das Buch stellt die Entwicklung der Universität in Europa und den USA dar, allerdings mit Schwerpunkt auf Deutschland. Die Uni ist jedoch keine deutsche Erfindung, sondern eine französische und italienische. Die beiden ersten Universitäten waren nämlich Paris (entstanden um 1200) und Bologna (ebenfalls um 1200), und im gleichen Atemzug müsste auch Oxford (um 1200) genannt werden.
Mit der heutigen Institution hatten diese Universitäten noch nicht viel gemein, außer dass die größten Geister der Zeit dort Studenten unterrichteten. (Man denke nur an den Theologen Thomas von Aquin, der in Paris lehrte. Latein als damalige lingua franca ermöglichte eine internationale Herkunft von Professoren und Studenten.)
Bald folgten die Gründungen der Universitäten Cambridge (1233), Montpellier (1289), Prag (1348), Krakau (1364). Die erste Universität im heutigen deutschen Sprachraum war Wien (1365), gefolgt von Heidelberg (1385) und vielen anderen.
Ich kann hier nicht die gesamte Entwicklung nachzeichnen, sondern nur einige Aspekte herausgreifen, die mir besonders interessant erschienen:
Vorlesungen auf Deutsch
So zum Beispiel die Tatsache, dass Deutsch als Unterrichtssprache nicht erst in der Aufklärung verwendet wurde, wie immer wieder behauptet wird, sondern schon viel früher. So hielt z. B. Thomas Münzer bereits in der Renaissance deutschsprachige Vorlesungen.
Intrigenstadl
Schon während meines eigenen Studiums ist mir aufgefallen, dass die Universität nicht nur hehre Stätte von Forschung und Lehre ist, sondern – gewissermaßen als Ausgleich – auch ein fürchterlicher Intrigenstadel. Das war auch früher schon so. Zu spüren bekam das etwa Friedrich Schiller, als er in Jena Universitätsprofessor wurde. Er hatte beantragt, Geschichtsprofessor zu werden, wurde dann aber als Philosophieprofessor berufen. Nachdem er unter gewaltigem Publikumszuspruch seine berühmte Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte“ (1789) gehalten hatte, trat schnell ein Neider auf den Plan, der ihm aus der Tatsache, dass er als Philosophieprofessor illegitim ins Fach Geschichte ausgrase, einen Strick zu drehen versuchte. (S. 102f).
Schiller-Lektüre hätte übrigens dem Autor dieses Buches nicht geschadet, denn dann wäre ihm vermutlich der peinliche Schnitzer nicht passiert, die wegen brutaler Rekatholisierungsmethoden als „Bloody Mary“ in die Geschichte eingegangene Mary I. Tudor mit Maria Stuart zu verwechseln (S. 108).
Universitätsbibliotheken: Eckpfeiler des Erfolgs
Koch streicht auch die Bedeutung der Universitätsbibliotheken als Eckpfeiler des Erfolgs heraus: Wo es eine gute Universitätsbibliothek gab, dorthin ließen sich die Professoren auch gerne berufen.
Die weltgrößte Universitätsbibliothek gibt es übrigens weder in Paris noch in Wien, sondern: in Harvard. Ja, die ganze Universität wurde dort nach jenem edlen Spender John Harvard benannt, der 1638 dem College „seine Bibliothek und die Hälfte seines Besitzes hinterließ“ (S. 110).
Den imposanten Universitätsbibliotheken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist sogar ein eigener Abschnitt gewidmet (etwas irreführend „Universitätsgebäude“ betitelt). Als ein besonders wichtiges Beispiel führt Koch neben Graz die Universitätsbibliothek Wien an, deren Lesesaal in der von Heinrich von Ferstel erbauten Universität am Ring noch heute eine wunderbare Atmosphäre ausstrahlt. Natürlich haben auch die Universitätsbibliotheken mit akuten Platzproblemen zu kämpfen, da seltsamer Weise seit Jahrhunderten der Platzbedarf von Büchern unterschätzt wird. (Ein Phänomen, das ich auch von meiner privaten Bibliothek kenne…) Eine Strategie, dieses Problems Herr zu werden, war im 20. Jh. die Idee der „self-renewing-library“, deren Platzbedarf deshalb nicht steigen sollte, weil man immer genausoviele alte Bände ausscheiden sollte, wie neue angekauft wurden. „Mit der Betrachtung einer Bibliothek als einer Infrastruktureinrichtung für wissenschaftliche Arbeit hat dergleichen kaum noch zu tun“ (S. 172).
Universität in der Literatur
Gutes Benehmen und ausgeprägter Fleiß waren nicht immer die Stärken von Studenten, was Anlass zu Universitätssatiren vom Mittelalter bis heute gab. Im englischsprachigen Raum entwickelte sich sogar ein eigener Romantypus, der „Universitätsroman“ (z. B. von David Lodge), der sich allerdings in der deutschen Literatur nicht durchsetzte. „Die Universität als Thema der Literatur“ ist ein eigenes Kapitel (S. 264-269).
Frauenstudium
Den Entwicklungen im 20. Jh. widmet Koch verständlicher Weise viel Aufmerksamkeit. Etwa der Frage, wie es um das Frauenstudium stand, das eigentlich eine sehr junge Errungenschaft ist und, betrachtet man den Prozentsatz der Studentinnen heute, einen gewaltigen Siegeszug der Frauen gleichkommt. Auch als Lehrende setzten sich Frauen erst spät durch. Die erste Habilitation einer Frau, der Germanistin Elise Richter, gab es 1905 in Wien. 1921 wurde sie a. o. Professorin.
Relativ neu ist auch das Verbindungs(un)wesen mit seinen Saufgelagen und den „Mensuren“.
Nationalsozialismus und Universität
Von da ist es nicht weit zum unerfreulichsten Kapitel der Universitätsgeschichte: dem Verhältnis der Unis zum Nationalsozialismus. Heidegger fällt einem da gleich ein, der auf S. 208 relativ glimpflich davonkommt. Auf der anderen Seite stehen die Mitglieder der „Weißen Rose“ (S. 206f).
Universitätslehrer waren nicht selten ausgeprägte Wendehälse, was durch die Universitätspolitik der Besatzungmächte, die die Unis möglichst schnell wieder auf die Beine bringen wollten. Kurioses Exptrembeispiel ist der „Fall Schneider/Schwerte“, wo der nationalsozialistisch belastete Ernst Schneider sich 1945 einfach für tot erklären ließ und als Hans Schwerte eine neue Universitätskarriere begann (übrigens auch die „Witwe“ des Ernst Schneider heiratete!) und es bis zum Rektor der TH Aachen brachte. Schneider setzte sich in den 70er-Jahren „für die kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die europäische Versöhnung“ ein. Erst 1995 kam man ihm auf die Schliche (S. 225).
Sehr ausführlich werden die Studentenunruhen samt ihren ins Terrormilieu reichenden Hintergründen geschildert.
Summarisch hingegen fasst Koch die Entwicklung der künstlerischen Hochschulen zusammen (S. 242-248). Einrichtungen im Umfeld der Universitäten wie der DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst), die Forschungsinstitute von den Akademien der Wissenschaft bis zu Fraunhofer-Gesellschaft, ja sogar die Volkshochschulen werden ebenfalls kurz behandelt.
Bologna-Prozess
Ganz zum Schluss lässt Koch kein gutes Haar am „Bologna-Prozess“:
„Die Wirklichkeit der Bologna-Prozesse sieht anders aus als erwartet: noch mehr Bürokratie und noch mehr Immobilität und die allmähliche Ausbildung einer Schafs- statt Lammsgeduld, die ist unentbehrlich, um nach der Welle von sog. ‚Rankings‘ durch Einrichtungen wie das Gütersloher ‚Centrum für Hochschulentwicklung‘ weitermachen zu können.“ (S. 272)
Der Band ist gut zu lesen, wenn auch stellenweise der Wechsel von einem Thema zum nächsten etwas überraschend vonstatten geht. Zur Illustration dienen einige Schwarzweißabbildungen.
Hans-Albrecht Koch: Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution.Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2008. 320 Seiten.
Bild: Wolfgang Krisai: Arkadenhof der Universität Wien. Tuschestift. 2015