Hanns-Josef Ortheil. Der Stift und das Papier

Ortheil_StiftWenn ich in den letzten Tagen gefragt wurde, was ich gerade lese, so habe ich stets geantwortet, den neuen Roman von Ortheil, Das Kind, das schreibt.
Völlig versunken im Kosmos der erzählten Geschichte um einen kleinen schreibenden Jungen, der mit dem dritten Lebensjahr seine Sprache verliert – den stummen Hanns-Josef – bemerke ich nicht, dass dies nur eine Zeile aus dem Buch ist, das so beginnt:
Ich sitze in der Jagdhütte meines Vaters auf dem elterlichen Grundstück im Westerwald … Auf meinem Tisch liegen sehr viele Stifte und Papier unterschiedlicher Formate. Ich muss mich entscheiden, welchen Stift und welches Papier ich jetzt zum Schreiben nehme. Es ist früh am Abend. Kurz schließe ich die Augen, dann entscheide ich mich: Ich beginne zu schreiben …, plötzlich, von einem Moment auf den andern … – bin ich wieder: Das Kind, das schreibt … (S. 7). 

Stumm und fassungslos vor Glück folge ich Zeile um Zeile diesem Kind, das sich schreibend und dank der aufopferungsvollen Hingabe seines Vaters das Leben erobert. Auch seine Mutter spricht kein einziges Wort. Vier Söhne hat sie durch den Krieg verloren. Das dreijähige Kind ohne Brüder orientiert sich an der stillen Mutter, die lediglich über handbeschriebene Zettel mit dem Jungen kommuniziert. Weil aber das Kind nicht spricht, erwirbt es auch keine eigene Sprache. Wörter zu hören, bereitet ihm Widerwillen. Manchmal spürte ich, wie es in meinem Kopf richtiggehend warm oder sogar heiß wurde, so sehr hatte mein Gehirn damit zu tun, die Fülle der fremden Wörter zu sortieren und zu ertragen (S. 10).
Dann beginnt die Schulzeit und die Stummheit des Jungen führt dazu, dass er sowohl vom Lehrer als auch von den Mitschülern komplett ignoriert wird.
Die Schüler halten ihn für dumm und blöd, nennen ihn einen “Schisser”.

Mit heutigem Blick und voller Liebe und Mitgefühl schaut Autor Hanns-Josef Ortheil auf dieses Kind, das er war, schweift zurück in die Zeit der ersten Schreibversuche. Ab und zu springt die Handlung in die Jetzt-Zeit in die Jagdhütte des Vaters, um sofort wieder weit zurück zu gehen  … Sein Papa und er hören leise Musik, es sind die Präludien von Bach. Sein Papa entrollt ein Pergamentpapier, das weniger streng aussieht als weißes Papier und sich für den Siebenjährigen gut anfühlt. Dann holt sein Papa die Zigarrenkiste mit den Schreibuntensilien. Gemeinsam üben beide das Linienziehen. Ernsthaft und meditativ, schweigend. Was mich so tief berührt ist, dass sein Vater rein intuitiv arbeitet mit dem Kind. Weder Pädagoge noch Psychologe, öffnet er die Seele des verletzten Jungen. Er nimmt ihn ernst, er lobt und er tadelt ihn auch. Essen und Trinken sind in der Jagdhütte verboten. Schritt für Schritt erobern sich beide die Welt der Sprache. Doch beginnt alles mit der Wahl des richtigen Bleistifts:

Stifte_und_PapierblöckeWas ich neben dem Zeichnen lerne, ist, wie sich die Bleistifte unterscheiden. Jeder ist anders, liegt anders in der Hand und bewegt sich auf dem Papier … langsam, schwungvoll, kratzend, schabend oder auch stotternd. Mit der Zeit entdecke ich, dass ich Lieblingsbleistifte habe (S. 24/25).
Da  ich selbst ein großer Fan von Notizblöcken und Bleistiften bin, ist dies eines von unzähligen beglückenden Details in diesem großartigen Buch. Ich bin so vertieft, dass ich glaube, den Duft von Holzspänen zu spüren. Oder die frische Waldluft, wenn der Junge vor die Tür geschickt wird zum Spielen. Immer allein. Dort beobachtet er Rehe, Hirsche, Blätter im Wind, dahinziehende Wolken.
Hinzu kommt die Faszination, die der Vater auf mich ausübt. Ständig entwickelt er neue Ideen für Schreibübungen. Akribisch erobern Vater und Sohn sich Texte. Der Junge muss Gespräche während des Einkaufens notieren, Gedichte verfassen. Das täglich sich ändernde Wetter aufzeichnen. Chroniken werden angelegt, Archive eröffnet. Schreiben beruhigt ihn, er fühlt sich erleichtert, glücklich. Verbringt er einen Tag ohne Schreiben, dann ist er nervös und unzufrieden. Schreiben wird zur täglichen Routine: Ich quälte mich nicht damit herum, sondern freute mich darauf, zu beginnen … Ich schrieb mein Leben auf (S. 60). Doch er will auch Fußball spielen mit den anderen Jungs, er will Klavier üben mit der Mama. Er muss täglich in die Schule.
Ich dachte immer wieder über das Zeitproblem nach und kam schließlich nur zu einem Ergebnis … Ich stelle mir einen Wecker und stehe frühmorgens kurz vor sechs Uhr auf. Ich ziehe meinen Bademantel über und schleiche in meine Werkstatt. Dort stelle ich das Radio an … und schreibe Sätze über den vergangenen Tag (S. 107).

Schreiben ist für Ortheil ein einsamer Akt, es ist ein Akt höchster Kreativität. Ein Leben ohne Stift und Papier ist für ihn unvorstellbar.
Und für mich? Auch für mich gehört Schreiben zu den schönsten Dingen, die es zu tun gibt. Und einen Roman zu lesen, in dem es ausschließlich ums Schreiben geht, ist motivierend und inspirierend zugleich.
“Der Stift und das Papier” liest sich zugleich als eine Vater-Sohn-Geschichte, wie es kaum eine ähnliche gibt. Man könnte mit Kindern nach Ortheils kreativen Ideen eine Schreibwerkstatt gründen. An jeder beliebigen Stelle kann man dieses Buch aufschlagen, darin eintauchen und sich verzaubern lassen. Man kann es aber auch einfach chronologisch lesen und zuschauen, wie aus einem stummen Kind ein erfolgreicher Autor, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben wird.

Hanns-Josef Ortheil. Der Stift und das Papier. Luchterhand Literaturverlag München 2015. 384 Seiten. 21,99 €



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