Hannover 96: Von Erdogan lernen heißt Wahlen gewinnen?

Hannover 96: Von Erdogan lernen heißt Wahlen gewinnen?

© Stefan Scherer

Man möchte ja meinen, dass ein Traditionsverein in der Lage ist, Wahlen in einem geregelten und demokratisch einwandfreien, darüber hinaus satzungsrechtlich zulässigen Rahmen durchzuführen, aber weit gefehlt…

Werfen wir einen kurzen Blick in die Satzung, damit wir überhaupt wissen, worüber wir reden:

(…)

§ 13 Versammlungsleiter und Beschlussfassung

1. Die ordnungsgemäß einberufene ordentliche oder außerordentliche Mitgliederversammlung ist ohne Rücksicht auf die Zahl der erschienenen Mitglieder beschlussfähig.

(…)

2. Die Mitgliederversammlung beschließt mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen, sofern die Satzung nicht eine andere Mehrheit vorschreibt. In allen Fällen gilt Stimmengleichheit als Ablehnung; Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen werden nicht mitgezählt. Jedes stimmberechtigte Mitglied hat bei der Abstimmung eine Stimme. Das Stimmrecht kann nur persönlich ausgeübt werden. 3. Satzungsänderungen bzw. die Neufassung einer Satzung können nur mit einer Mehrheit von 2/3 der abgegebenen Stimmen beschlossen werden.

Halten wir kurz fest:

  • Die Mitgliederversammlung ist also immer ebschlussfähig, egal, wieviele Mitglieder anwesend sind und
  • die abgegebenen Stimmen sind zu zählen und ergeben das Ergebnis der Abstimmung.

So kurz, so einfach, so eindeutig.

So, gestern standen mehrere Wahlen und Abstimmungen an, insgesamt 3 davon möchte ich kurz beleuchten – damit es die hier geneigten Leser mal so richtig erschaudern lässt.

Als ich gestern am Versammlungsort erschien, drückte man mir unter anderem folgende „Wahlkarten“ in die Hand: eine rote, eine grüne und eine gelbe Karte für offene Abstimmungen und eine grüne Karte für die Zustimmung zur Entscheidung über einen wichtigen Antrag auf Satzungsänderung, welche mit einer Nummer versehen war, die wiederum bei der von mir gezeichneten Anwesenheitsliste mit meinem Namen verbunden war.  Auf meine Nachfrage teilte man mir mit, weitere Karten bzgl. der Satzungsänderung – insbesondere für Ablehnung und Enthaltung – seien nicht vorgesehen.

Ich war sehr erstaunt, zumal ich mich nicht erinnern kann, schon einmal mit einer personalisierten Wahlkarte Im Rahmen einer Urnenabstimmung abgestimmt zu haben.

Nun kam es im Verlauf der Sitzung zur ersten Abstimmung über die Entlastung des Vorstandes; diese führte der schon zu diesem Zeitpunkt völlig überforderte Versammlungsleiter wie folgt durch: er erklärte, die Listen vor der Tür hätten insgesamt 442 Stimmberechtigte ergeben, er werde jetzt diejenigen mit Rot aufzeigen lassen, die gegen die Entlastung seien. Nachdem er diese festgestellt hatte, fragte er die Enthaltungen ab. Sodann behauptet er, alle anderen Stimmen seien dann Stimmen für die Entlastung: somit sei der Vorstand entlastet. Er klärte also nicht ab, wieviele Stimmen eigentlich den Vorstand entlasteten!  Und dies, obwohl die Satzung eindeutig von den abgegebenen Stimmen der Mitglieder spricht. Nach der Satzung hatte er nun also lediglich Stimmen gegen die Entlastung so wie Enthaltungen, Stimmen für die Entlastung wurden nicht abgegeben. Interessiert hat ihn das wenig.

Aber damit nicht genug: trotz des durchaus lautstarken Protests gegen diese Abstimmung führte er nun die Abstimmung zur Entlastung des Aufsichtsrates durch – und fragte dabei sowohl die Ja- als auch die Nein-Stimmen und die Enthaltungen ab… wobei er feststellte, dass er nun anstatt der angeblich 442 Stimmen nur 399 hatte! 5 Minuten nach der Abstimmung über die Entlastung des Vorstandes fehlten ihm also plötzlich über 40 Stimmen – und zwar so viele Stimmen, dass bei einer gleichen Anzahl der Stimmen der Vorstand nicht entlastet worden wäre.

An dieser Stelle können wir also feststellen: eine Wahl entsprach der Satzung, die andere nicht, und sie führte mutmasslich zu einem falschen Ergebnis! Gerechtfertigt wurde die Durchführung dieser nicht satzungskonformen Abstimmung mit der Anwendung des sogenannten Subtraktionsverfahrens, welches der Versammlungsleiter – immerhin Jurist – wie folgt darstellte: Feststellung der Stimmberechtigten abzüglich Nein-Stimmen abzüglich Enthaltungen ergibt Ja-Stimmen.

Allerdings ist dies falsch, denn tatsächlich sind zur Anwendung des Subtraktionsverfahren zunächst die tatsächlich zum Zeitpunkt der Abstimmung anwesenden und zur Stimmabgabe fähigen Teilnehmer zu ermitteln – was aber durch den Versammlungsleiter eindeutig nicht getan wurde, wie die zweite Wahl schlagend bewies. Und im übrigen gibt dieses Wahlverfahren die Satzung schlicht nicht her, weil sie ausdrücklich auf die abgegebenen Stimmen verweist und die rechnerische Zählung von nicht abgegebenen Stimmen von tatsächlich Wahlberechtigten nicht zulässt – es kommt eben nicht auf die Wahlberechtigten an, sondern nur auf die Stimmabgabe selbst.

Aber wenn man meint, es könne nicht noch irrer kommen, dann kommt es doch noch irrer… zur Abstimmung über die Satzungsänderung hatte man den Wahlberechtigten ja schon eine personalisierte Zustimmungskarte in die Hand gedrückt. Allerdings waren seitdem mehrere Stunden vergangen und – natürlich herrschte seit dieser Zeit ein fröhliches Kommen und Gehen bei der Versammlung. Nun erklärte der inzwischen tätige 2. Versammlungsleiter – ein Notar, der an diesem Abend aber nicht als Notar auftreten wollte (kleine Randnotiz) – zunächst einmal, er werde trotz eines ausdrücklichen Antrags nicht geheim abstimmen lassen, und er werde auch darüber nicht abstimmen lassen, ob es eine geheime Wahl sein solle. Darüber hinaus lege er folgenden Ablauf fest: die Wahlberechtigten seien ja am Ausgang erfasst worden (Unterlagen dazu wurden trotz Nachfrage nicht präsentiert), sodann hätten alle, die für den Antrag stimmen würden, nach vorne zu kommen und hätten dort ihre – personalisierten (!) – Wahlkarten in die Wahlurne einzuwerfen. Alle nicht abgegebenen Stimmen würden sodann als Gegenstimmen gezählt. Auf ausdrückliche Nachfrage, was denn mit Enthaltungen sei, merkte er, dass er darüber noch nicht nachgedacht hatte und forderte sodann diejenigen, die sich enthalten wollten, auf, den Saal zu verlassen und sich aus der Wahlliste auszutragen. Zu diesem Zeitpunkt hatten allerdings schon diverse Wahlberechtigte den Saal verlassen und es war nicht erkennbar, dass diese Personen irgendwie erfasst wurden, da sich die Personen, die beim Einlass die Kontrollen durchgeführt hatten, im Saal befanden – jedenfalls, so weit ich dies beurteilen konnte.

Ich habe dann noch versucht, auf den Kollegen einzuwirken, zumal ja rote, gelbe und grüne Wahlkarten vorhanden waren, die man hätte verwenden können: jeder Wahlberechtigte händigt seine personalisierte Wahlkarte einem Wahlhelfer aus und wirft dann eine rote, grüne oder gelbe Karte in die Wahlurne analog jeder Wahl in Deutschland; aber leider war der Kollege komplett beratungs- und kompromissresistent.

Eine grosse Anzahl von Personen haben dann – neben diversen Widersprüchen zu Protokoll – nur unter Protest abgestimmt.

Nach meiner Einschätzung ein Wahlvorgang aus dem Tollhaus und einer, der mich in ganz starkem Masse an Geschichten erinnert, die man aus Ländern hört, deren Wahlstandards nicht annähernd dem deutschen Standard entsprechen; und bedenkt man in diesem Zusammenhang, dass dieses dem Wortlaut der eigenen Vereinssatzung komplett widersprechende Wahlprozedere einhergeht mit massiven Beeinflussungen durch den Vorstand und die Abteilungsleiter im Vorfeld zB. durch zweiseitige Briefe, und bedenkt man weiterhin, dass mir von mehreren Seiten vertraulich zugetragen wurde, dass auch noch am Wahltag massiv Einfluss auf Wahlberchtigte genommen wurde (die dann ja vor ihren Beeinflussern hätten nach vorne gehen und eine personalisierte Wahlkarte einwerfen müssen, die nur eine einzige Wahlmöglichkeit enthielt), dann wird mir wohl jeder zustimmen, dass zumindest der Verdacht der einseitigen Wählerbeeinflussung nicht von der Hand zu weisen ist.

Ich bin jedenfalls gespannt, ob diese durchaus kreativ-originellen und demokratisch ambitionierten Wahlen noch Gegenstand von (gerichtlichen) Klärungsprozessen werden. Und ich verbuche es als einen negativen Tiefpunkt in meinen Erfahrungen nicht nur mit Vereinsversammlungen und Wahlvorgängen, sondern auch mit Hannover 96 – dem Verein, an dem ich mal sehr intensiv gehangen habe. Ich muss ehrlich sagen, dass ich tief bestürzt bin, wie gestern abend bei Hannover 96 grundlegende demokratische Regeln missachtet und einseitig beeinflusst wurden – jedenfalls nach meinem Verständnis.

Natürlich ging es nicht ansatzweise um so viel wie zB. bei dem Referendum in der Türkei zur Änderung der dortigen Staatssatzung = Verfassung. Aber so ähnlich hilflos oder über den Tisch gezogen müssen sich die gegen das Referendum stimmenden Türken fühlen wie ich dies heute morgen tue – und vielleicht ist es für mich auch ein ganz heilsames Erlebnis, einmal am eigenen Leibe zu fühlen, wie es ist, wenn die für uns so selbstverständlichen demokratischen Standards eher nicht eingehalten werden…

Photo: © Stefan Scherer

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