Nachdem ich bereits vor längerer Zeit über Hannah Arendt las, wurde es nun Zeit, etwas von ihr zu lesen. Und so bestellte ich bei der Bibliothek meines Vertrauens “Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft” – ohne zu wissen, dass es sich um ein knapp 1000 Seiten starkes Buch handelt, dass zu Lesen mich einige Mühe und Zeit kosten würde (sechs Wochen habe ich benötigt).
Eigentlich sind das drei Bücher: eines über die Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus, eines über die Geschichte des Imperialismus (wobei sich meiner Meinung nach ihre Definition des Begriffes von der marxistischen unterscheidet; ist doch Hannah Arendt’s Imperialismus-Definition eher als Kapitalismus in seiner nationalen Prägung im Zusammenhang mit der Kolonialisierung der Welt zu verstehen; im marxistischen Sprachgebrauch jedoch als eine weitere Entwicklungsstufe des Kapitalismus) sowie eines, dass die Analyse totaler (oder totalitärer) Regime versucht – hier ist auch der Ursprung zum Vergleich zwischen dem Nationalsozialistischen Deutschland und dem Stalinismus zu finden.
Versteckt darin finden sich einige sehr wichtige und nachdenkenswerte Passagen auch über Themen, die man in diesem Zusammenhang (in diesem Buch) nicht vermuten würde. Schreibt sie doch im Teil über dem Imperialismus über die “Aporien der Menschenrechte”. (Aporie meint: unlösbarer Widerspruch einer Sache an und in sich – siehe Wikipedia.)
Aus den Erfahrungen, die recht- und staatenlose Flüchtlinge in der Zweit zwischen den Weltkriegen machen mussten, leitet sie die These ab, dass Menschenrechte nicht grundsätzlich und als Naturrecht dem Menschen inne wohnen, sondern immer eine Institution, einen Staat z.B. benötigen, dem gegenüber der Rechtlose sein Recht einfordern kann. Ein Staatenloser hat genau dieses Recht, die Möglichkeit des Einforderns gerad nicht.
Denn das Unglück der Rechtlosen liegt nicht darin, daß er des Rechtes auf Leben, auf Freiheit, auf Streben nach Glück, der Gleicheit vor dem Gesetz oder gar der Meinungsfreiheit beraubt ist [...] die Rechtlosigkeit … entspringt einzig der Tatsache, daß der von ihr Befallene zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft gehört. Es ist sinnlos, Gleichheit vor dem Gesetz für den zu verlangen, für den es kein Gesetz gibt… Seite 611 ff
Das Buch ist viel zu umfangreich als dass ich es wirklich rezensieren könnte; auch fehlt es mir an vielen Stellen einfach an Wissen. Doch möchte ich ein paar Gedanken aus dem Buch herausgreifen, die ich für überlegenswert halte und die mir einen neuen Blick auf die Geschichte vermittelt haben.
So schreibt Hannah Arendt über die sogenannten “Ausnahmejuden” (das sind – meist reiche und assimilierte – Juden, die vom Staat benötigt werden, um diverse finanzielle Geschäfte zu regeln):
Wenn Assimilation bedeuten sollte, daß sie wirklich von der nichtjüdischen Gesellschaft akzeptiert waren, so haben sie [die Juden] sich dieser nur so lange erfreut, wie sie klar als Ausnahme von den jüdischen Massen abhoben. Seite 141
Daraus ergibt sich für Hannah Arendt eine “Mitschuld” der Ausnahmejuden am wachsenden Antisemitismus. Denn die privilegierten Juden waren ihrer Sonderstellung, ihrer Besserstellung innerhalb der Gesellschaft nur so lange sicher, als sie Ausnahmen blieben. In dem Moment, in dem eine allgemeine Assimilation begann, sank der Stern der Ausnahmejuden. Sie wurden Teil einer Masse. Dies – so Hannah Arendt – beschleunigte unter Anderem auch das Entstehen des Antisemitismus in Deutschland, in dem – auch durch den ersten Weltkrieg – die jüdischen Teile der Bevölkerung eher national gesinnt waren und sich mehr als Deutsche als als Juden betrachteten. Das ist ein interessanter und bisher von mir noch nicht gesehener Gesichtspunkt.
Im zweiten Teil des Buches, in dem es um die Entstehung des (kolonialen) Imperialismus geht, vertritt sie die These, dass es einen Unterschied der “Eroberung” der Kontinente gibt:
Import europäischer Menschen, Besitzergreifung außereuropäischen Bodens und Ausrottung eingeborener Bevölkerungen fanden auf den beiden Kontinenten [Amerika und Australien] statt, die spärlich besiedelt und ohne eigenständige Kultur und Geschichte in die Hand Europas fielen. Seite 409
Ich wiederhole: “…ohne eigenständige Kultur und Geschichte…” an dieser Stelle weist sich Hannah Arendt als Kind ihrer Zeit aus; denn selbstverständlich hatten sowohl die Ureinwohner Amerikas als auch die Aborigines eine eigene Geschichte und Kultur; nur waren diese den europäischen Eroberern fremd und unwichtig.
Schlimmer wird es nur noch, als sie über die kolonisierten Völker Afrikas schreibt:
Was sie von anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstoßend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten. Seite 426
Es kommt mir schreckend vor, dass eine Autorin, die sich besonders mit der Ausgrenzung von Völkern und der Unterdrückung beschäftigt, diese Wertmaßstäbe offensichtlich nicht auf “die Wilden” anzuwenden bereit zu sein scheint. Doch wie gesagt: Hannah Arendt war ein Kind ihrer Zeit und insgesamt auch skeptisch den allgemeinen Menschenrechten gegenüber, die sie auf die schwarze Bevölkerung des Kontinents nicht angewandt wissen wollte.
Im letzten Teil des Buches erarbeitet Hannah Arendt die (im Kalten Krieg oft genutzten) Parallelen der totalen Herrschaft Deutschlands unter Hitler und der Sowjetunion unter Stalin heraus. Dabei nimmt sie sowohl den italienischen Faschismus als auch die infolge des zweiten Weltkrieges entstandenen “Satellitenstaaten” der UdSSR (Ostblock) davon aus.
Im Zusammenhang mit dem gestern besprochenen Buch Michail Ryklin’s “Kommunismus als Religion” und seinem Nachweis, weshalb viele westliche Intellektuelle dem “Glauben” an den Kommunismus anhängen, möchte ich dazu auch aus Hannah Arendt’s Buch zitieren:
Daß totalitäre Bewegungen auf rückhaltlose Ergebenheit ihrer Mitglieder, daß totalitäre Regierungen oft auf echte Popularität in den von ihnen unterdrückten Völkern rechnen können, ist erschreckend genug. Erstaunlicher und beunruhigender ist die unzweifelhafte Anziehungskraft, die sie auf die geistige und künsterlische Elite ausübten. Weder Weltfremdheit noch Naivität können erklären, daß eine erschreckend große Zahl der wirklich bedeutenden Männer unserer Zeit sich unter den Sympatisierenden oder den eingeschriebenen Mitgliedern totaliärer Bewegungen befinden oder zu irgendeiner Zeit ihres Lebens befunden haben. Seite 702 ff
Hannah Arendt’s Begründungen sind bedeutend weniger optimistisch als die Schlussfolgerungen Ryklins, der davon ausgeht, dass eine Art revolutionär-religiöse Ergriffenheit die Elite erfasst hat. Arendt hingegen sieht darin ein “zeitweiliges Bündnis zwischen Mob und Elite” – eine Wertung, die der Elite nicht unbedingt zur Ehre gereicht.
Was meiner Meinung nach Hannah Arendt’s These der Gleicheit des Hitler-Regimes mit dem stalinistischen erschüttert – und daher auch keinen Eingang in das Buch findet – ist, die schlichte Tatsache, dass es zwischen diesen beiden Diktatoren zu einem Bündnis kommt; dem Hitler-Stalin-Pakt und später dann zu einem unmenschlichen Krieg.
Da Hannah Arendt die beiden Gesellschaftsformen als ebenbürtig und gleichwertig darstellt wundert das nicht. Nach der dem Buch innewohnenden Logik wäre der Hitler-Stalin-Pakt 1939 sogar ein Beweis für die Richtigkeit ihrer Thesen. Danach wäre dieser Pakt solange von Bestand, bis eines der beiden Regime die “Weltherrschaft” besitzt und erst dann – wegen des systemimmanenten Bewegungsdranges – müssten die beiden bipolaren Bewegungen aufeinander treffen.
So jedoch; ohne Erwähnung der beiden genannten “Verbindungen” zwischen Deutschland und Rußland; bleibt der Ausbruch des “Großen vaterländischen Krieges” am 22. Juni 1941 ein historischer Unfall und unerklärlich.
Möglich, dass ich durch die Erziehung in einem der sog. “Ostblockstaaten” blind bin für einige der Schlussfolgerungen Hannah Arendt’s; möglich aber auch, dass sie, die die Demokratie der USA für die einzig tatsächlich bestehende Demokratie hält, auf dem linken Auge ein wenig kurzsichtig ist.
Das Buch jedenfalls hat es in sich; das ist eines von denen, die man nicht nur einmal liest und – wenn auch nicht vergisst – begreifen kann. Das Gelesene nun war ein Exemplar aus der Bibliothek – aber ich denke, ich werde es kaufen und noch einige Male lesen.
Hannah Arendt’s Buch ist spannend (wenn auch manchmal sehr langatmig) und sicherlich auch nicht widerspruchsfrei zu lesen; interessant ist es allemal.