Hamed Abdel-Samad: «Nichts gelernt, außer zu töten»

Hamed Abdel-Samad: «Nichts gelernt, außer zu töten»

Der langjährige libysche Diktator Gaddafi ist tot. Was bedeutet das für den Arabischen Frühling?

Hamed Abdel-Samad: Bisher wurden nur weiche Diktaturen gestürzt, die sehr früh aufgegeben haben. In Tunesien ist Ben Ali nach vier Wochen gestürzt, Mubarak sogar nach 18 Tagen. Mit Gaddafi ist erstmals eine harte Diktatur gefallen, die brutal zurückgeschlagen hat. Das wird Druck auf Algerien ausüben, wo auch eine harte Diktatur an der Macht ist. Marokko wird versuchen, ernstzunehmende Reformen auf den Weg zu bringen. Am stärksten betroffen werden die Syrer sein, die auch in einen langen Kampf verwickelt sind. Sie sehen jetzt: Ein harter Diktator kann stürzen. Das wird sie ermuntern, weiter gegen Baschar al-Assad vorzugehen.

Am Sonntag wählen die Tunesier nach 23 Jahren Diktatur das erste Mal wieder frei. Wie stehen die Chancen, dass es Demokratie in dem Land geben wird?

Abdel-Samad: Diese Wahlen zur Ausarbeitung einer Verfassung werden eine Frühwarnung sein, ob die Tunesier den Islamisten mehr Gewicht verleihen wollen oder den moderaten Kräften. Im Moment sieht es nach fünfzig-fünfzig aus. Allgemein ist die junge Generation der Revolution noch zu unerfahren. Sie braucht 10 bis 15 Jahre, damit sie auch politisch etwas bewegen kann. Aber die Zeit ist auf ihrer Seite und sie ist motiviert, am Ball zu bleiben. Bis dahin müssen wir noch mit viel Chaos und vielleicht auch Gewalt rechnen.

Den Prognosen nach liegt die islamistische Nahda-Partei gut im Rennen. Kritiker befürchten, dass Tunesien dann ein religiöser Rechtsruck drohen könnte.

Abdel-Samad: Das ist gerechtfertigt. Religion war unter Ben Ali extrem verpönt in der Politik und im öffentlichen Raum. Diejenigen, die sich immer verstecken mussten, kommen nun aus ihren Löchern und versuchen, den öffentlichen Raum zu besetzen. Unter Ben Ali gab es kein gesundes politisches Leben. Die Islamisten sind am besten organisiert und haben viel Unterstützung von der Bevölkerung. Sie werden die größte Macht im Land sein, aber nicht die absolute Mehrheit bekommen.

Kann es auch mit den Islamisten Demokratie geben?

Abdel-Samad: Es kommt darauf an. Tunesien und Ägypten sind zwei Staaten, die nie komplett isoliert waren. Das heißt, sie haben immer vom Tourismus und von ausländischen Investitionen gelebt. Diese Länder haben sich nicht wie Saudi-Arabien oder der Iran durch ihr Öl in die Isolation zurückgezogen und islamistische Regime aufgebaut. Eine Regierung in Tunesien und Ägypten ist auf das Ausland angewiesen, deshalb kann sie die Scharia nicht in brutaler Form einführen. Es würde sofort wirtschaftlich bergab gehen. Ob dann mit den Islamisten Demokratie zu machen ist, hängt von den politischen und wirtschaftlichen Strukturen ab: eine stabile Verfassung, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung – diese Dinge könnten Islamisten als eine Kraft integrieren, die auch wieder abwählbar ist und daran gemessen wird, was sie für das Land getan haben.

Wie stehen die Chancen auf Demokratie in Libyen und den anderen Ländern?

Abdel-Samad: Im Gegensatz zu Ägypten und Tunesien sind in Libyen und dem Jemen keine politischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen vorhanden, die Stammesstrukturen sind sehr stark. Die langen Kämpfe werden Spuren hinterlassen. Die jungen Menschen, die jetzt jubeln, haben nichts in ihrem Leben gelernt, außer zu töten. Sie haben Waffen, aber kaum eine gute Ausbildung, keinen Job. Sie müssen jetzt zum Reden über Politik zurückkehren, das wird sehr schwierig. Einige Staaten werden sich Richtung Demokratie entwickeln, in anderen können wir Entwickelungen erwarten wie im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins.

Europa könne sich keine neutrale Haltung leisten, schreiben Sie in Ihrem Buch Krieg oder Frieden. Was müssen wir jetzt tun?

Abdel-Samad: Europa muss mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Das heißt, keine Almosen, keine Entwicklungshilfen an Regierungen, sondern investieren in den Aufbau neuer Parteien, Frauenorganisationen, das Bildungssystem. Außerdem müssen die Gelder der Diktatoren wieder nach Hause kommen, wo sie dringend gebraucht werden. Auch in der Schuldenfrage muss sich was tun. Länder wie Tunesien und Ägypten werden ruiniert, wenn sie die Schulden und Zinsen zurückzahlen müssen. Sie brauchen einen Schuldenerlass oder eine Einfrierung der Zinsen, damit sie verschnaufen können. Europa darf diese Entwicklung nicht verschlafen.

Was drohen sonst für Konsequenzen?

Abdel-Samad: Wenn diese Länder in politische und wirtschaftliche Verwahrlosung geraten, wird Europa das Dreifache bezahlen müssen, um die Auswirkungen zu beseitigen. Wenn ein Land wie Ägypten mit mehr als 80 Millionen Einwohnern wirtschaftlich zusammenbricht, werden viele junge Menschen nach Europa auswandern. Diese Flut von jungen Menschen, die nicht unbedingt gut ausgebildet ist, kann Europa nicht verkraften. Auch einen Bürgerkrieg könnte der Westen nicht ignorieren. Auf den Trümmern von gescheiterten Experimenten blüht der Extremismus besonders gut.

Sie schreiben, es sei aber auch an den Arabern, den Herausforderungen zu begegnen. Was erwarten Sie von den Menschen in Nordafrika?

Abdel-Samad: Europa kann die Prozesse nicht stellvertretend beschleunigen. Das müssen die Menschen selbst vor Ort machen. Die neuen Regierungen müssen dafür sorgen, dass Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit garantiert werden, dass Investoren berechenbare Umstände vorfinden. Außerdem muss die Revolution auch geistig weiter gehen, sie ist mit dem Sturz eines Diktators nicht beendet. Es braucht eine Bildungsrevolution, eine gegen die veralteten Gesellschafts- und Frauenbilder. Auch die alten religiösen Denkmuster müssen beseitigt werden.

Sie waren selbst im Januar in Ägypten bei den Protesten dabei. Haben Sie sich vorstellen können, welche Ausmaße das annimmt?

Abdel-Samad: Nein. Ich dachte, es handelt sich um eine kleine Protestbewegung. Ich war überwältigt von der Dimension, von den Menschen, die ausgeharrt und weitergekämpft haben, bis sie den Diktator gestürzt haben. Aber man kann diese Euphorie nicht langfristig beibehalten. Danach kam die Ernüchterung, dass der Weg extrem lang ist. Diese Revolution hat genauso die schönen Seiten des Landes gezeigt, wie sie die Schrecklichsten ans Tageslicht gebracht hat. Momentan herrscht ein innerer Kampf der Kulturen zwischen den Kräften, die Öffnung und Modernisierung wollen und den reaktionären Kräften, die auf die alten Strukturen setzen.


Hamed Abdel-Samad (*1972 bei Kairo) studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik in Kairo und Augsburg. Er arbeitete für die Unesco, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Abdel-Samad ist Mitglied der Deutschen Islam Konferenz und zählt zu den bekanntesten islamischen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. In seinem aktuellen Buch Krieg oder Frieden beschreibt er die Ursachen, Chancen und Gefahren des Umbruchs in der arabischen Welt.

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Arabischer Frühling – «Nichts gelernt, außer zu töten»

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Tags: Arabien, Demokratie, Diktatur, Hamed Abdel-Samad

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