Hamburg, Deutschland: Konsum, Protest, Gewalt, Polizei

Von Politropolis @sattler59

“Am traditionell einkaufsstarken letzten Samstag vor Weihnachten kommt es in Hamburg zu den schwersten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei.”

Schon in diesem Satz, der so oder ähnlich in den Medien zu lesen, hören und mit gewalttätigen Bildern hinterlegt zu sehen war, liegt ein Problem in der Beurteilung von Geschehnissen, die es zu differenzieren gilt. Manche Medien sprechen erst gar nicht von Demonstrationen, sondern beurteilen die Gesamt-Situation insgesamt gleich als “Krawall” und zeichnen für die Rezipienten ihrer Nachrichten-Produkte gleich ein vorgefertigtes Bild mit Rollenverteilung und Schuldzuordnung, die mit den antrainierten Sehgewohnheiten eines manipulativen Journalismus eine Symbiose bilden. Hier die gewaltbereiten Randalierer, dort die Polizisten. Täter, Opfer, Bilder, düstere Szenen aus der Hansestadt.

Dass sozio-ökonomische Zusammenhänge ursächlich für friedliche Proteste aus der Zivilbevölkerung waren, scheint selbst Qualitätsmedien nicht mehr recht zu interessieren. Sensationelle Berichte von Übergriffen und Gewalt übernehmen die “Nachrichtenlage aus Hamburg”: “Krawalle in Hamburg”, schreibt der Spiegel (1) und berichtet davon, wie Vermummte eine Polizeistation angegriffen haben und beschreibt in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie “Eskalation” und “Ausnahmezustand” bürgerkriegsartige Zustände, die von gewaltbereiten Chaoten dominiert seien. Hinter diesem Szenario tritt medial alles andere zurück.

Polizei und Demonstranten erleben Gewalt – Foto: © Dan Thy

“Gibt es einen Zusammenhang zwischen Konsumgesellschaft, zivilgesellschaftlichem Protest, Gewalt und Polizeiaktionen?”

Dan Thy aus Hamburg nahm an den Demonstrationen teil und beschreibt hier, was er erlebte und formuliert seine Gedanken zu den Protesten:


Am 21. Dezember 2013 ist es in Hamburg zu Ausschreitungen gekommen, welche als die schwersten Krawallen der letzten Jahre gelten. Es wurden nach Angaben eines Polzeisprechers etwa 120 Polizisten und nach Angaben “linker” Organisationen ungefähr 500 Demonstranten verletzt. Um etwas vorweg zu nehmen: Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der Ziele ist völlig inakzeptabel. Dass so viele Polizisten  zu den Opfern zählen, aber auch viele Bürger aus der Zivilbevölkerung, die friedlich demonstrieren wollten, ist empörend. Schon der reine Menschenverstand muss diese Eskalation der Gewalt ablehnen, das gleich vorweg.

Gehen wir aber noch einmal auf die Ereignisse vom 21. Dezember ein:   Den sogenannten Krawallen ging eine Serie von Demonstrationen in Hamburg voraus, also Formen von zivilgesellschaftlichem Protest, welche die Bevölkerung auf Missstände aufmerksam machen wollte.

“Wofür oder wogegen jemand demonstriert interessiert weder Politik noch Verwaltung noch Polizei”, das ist ein bemerkenswerter Satz, den ein FDP-Politiker auf Facebook zur Diskussion beiträgt. Gemeint hatte er dies jedoch lediglich im Hinblick auf die Anmeldung einer Demonstration.
„Es ist immer wieder erschreckend wie tief sich Linke in Verschwörungstheorien ergehen, dass der Staat/Polizei irgendwelche Demonstrationen verhindern/unterdrücken will. Das ist so falsch, dass nicht mal das Gegenteil richtig ist.” war weiter zu lesen.


An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen – Bürger jeden Alters nahmen an diesen Demonstrationen teil. Sie wollten öffentlich darauf aufmerksam machen, dass die Politik nach ihrer Ansicht viele gravierende Fehler macht, dass Politik insgesamt “falsch läuft”. Es geht in dieser Thematik um einen Komplex von Fragen: Es geht um Aspekte der Stadtentwicklung und der Veränderung ökonomischer Strukturen innerhalb der Städte,  die Gentrifizierung, die Asyl-Problematik und die Frage, wie die Menschen im 21. Jahrhundert leben wollen.

Als Essenz zusammengefasst:
Können wir als Zivilgesellschaft in einer Welt, in der wir glauben nichts mehr bewirken zu können, überhaupt etwas verändern, oder nicht? Befinden wir uns in einem Räderwerk, einem Hamsterrad der Realität, in dem wir uns ohnmächtig fühlen oder sind wir wirklich ohnmächtig?  Wenn dem so ist – was bedeutet das für unsere Demokratie?

Die Demonstrationen in Hamburg sind meines Erachtens der Versuch der Zivilbevölkerung, zu Veränderungen bewusst beizutragen – Ein Anstoß, der  zu einer menschenfreundlichen Politik im 21. Jahrhundert führen soll. Denen, die sich selbst als Demonstranten bezeichnen, ging es nicht um Krawall; mir nicht und meinen Freunden nicht.

Der vehemente Aufruf verschiedener Organisationen zu friedlichem Protest ist auch dahingehend zu verstehen. Und ganz nebenbei – Die Demonstrationen in Hamburg sind bis zu diesem Datum allesamt friedlich verlaufen. Festzustellen ist aber auch: Eine relevante “Bewegung” innerhalb der bestehenden politischen Strukturen konnte bis dahin jedoch nicht festgestellt werden.

Am 21. Dezember war ich selbst in der Demonstration im Schanzenviertel anwesend, welche sich zu sogenannten Krawallen entwickelte. Mein persönliches Erleben passt vielleicht nicht in das Nachrichtenschema der Medien, ist aber so geschehen: In letzter Sekunde konnte ich vor der massiven Polizeigewalt fliehen, als eine Gruppe von Polizisten auf die Demonstranten, also auch auf mich, losgestürmt ist. Alle um mich herum waren gekommen, um friedlich zu demonstrieren. Wir waren völlig perplex. Die plötzliche Auflösung der Demonstration hat den friedlichen Teilnehmern nahezu keinen Moment gelassen, die Szenerie zu verlassen. Sogenannter “Schwarzer Block” und friedliche Teilnehmer wurden nicht mehr unterschieden.
Es war eine nahezu bürgerkriegsähnliche Stimmung in der Luft, welche die Menschen zutiefst beängstigt hatte. Die meisten friedlichen Teilnehmer flohen in die umliegenden Geschäfte, um Schutz zu suchen. Den Ladenbesitzern muss diese plötzliche Überflutung mit Demonstranten absolut bedrohlich vorgekommen sein.

De-Eskalation sieht anders aus.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um aus meiner Sicht Folgendes festhalten: Nicht nur Teilnehmer der Demonstration, der vielgenannte “schwarze Block”, sondern  auch die Polizei, also die Exekutive unserer Staatsgewalt, hat, meiner Beobachtung nach, diese Veranstaltung des zivilgesellschaftlichen Protests eskalieren lassen und dann mit Gewalt niedergeschlagen. Die Polizei hat zu keinem Zeitpunkt deeskalierend agiert. Teilnehmer der Demonstration, friedlich oder nicht, aber auch Anwohner und Unbeteiligte sind unterschiedslos “behandelt” worden. Das, was die Menschen ausdrücken wollten, war der zivile Protest. Er wurde mit Wasserwerfern und Tränengas von der Staatsgewalt beantwortet. Ich bin darüber empört und sage: Das verletzt jedes Gefühl von Recht und Gerechtigkeit! Ganz ähnlich mussten sich die Demonstranten gefühlt haben, die in Frankfurt im Juni 2013 gegen die Krisen- und Verarmungspolitik protestierten. Die Geschehnisse dort sind vom Ausmaß her sicher nicht zu vergleichen, jedoch auch dort wurde eine Eskalation erst durch die Polizei herbeigeführt.  Sündenbock: Der “schwarze Block”.

Solidaritätsdemo in Frankfurt – Demo wg. Krisen und Verarmungspolitik wurde in Polizeikessel abgewürgt – Der “schwarze Block” ist an allem Schuld – Foto: © politropolis

Wenn es also um die Frage geht, ob wir als Zivilgesellschaft etwas politisch bewirken können, müssten wir eigentlich nach diesen Ereignissen antworten, wir haben als Antwort massive staatliche Gewalt erlebt, anstatt mit Protest Veränderung oder wenigstens Nachdenklichkeit herbeigeführt zu haben. Die Polizei hat im Anschluss die Teilnehmer undifferenziert und insgesamt kriminalisiert. Warum? Und was bedeutet das also für unsere Demokratie?

Wer gilt als Abschaum – Wer nicht?

Der stellvertretende Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Hessen, Björn Werminghaus generalisierte kürzlichst alle Demonstranten vom 21. Dezember öffentlich zu „gewaltätigem Abschaum“ und bewegt sich natürlich, so wie die Süddeutsche Zeitung richtig konstatiert, in Vokabular des Naziregimes.
Im Folgenden möchte ich mich also der Frage stellen, warum die Exekutive des Staates alle Teilnehmer der Demonstration, ob friedlich oder nicht, zu „Abschaum“ entmenschlichen konnte und keinen Mitleid mit den eigenen Bürgern hatte. Ich glaube, dass sie es auch in Zukunft voraussichtlich nicht haben wird. Massive Polizeigewalt wird, wenn sich wider Erwarten nichts Grundlegendes verändert, zur erschreckenden Normalität gehören.

Wer Konsum behindert, ist im Weg

Hierzu möchte ich die Aufmerksamkeit von den Demonstrationen kurz ablenken, um gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte aufzugreifen. Die Umstrukturierung unserer sozialen Realität zu einer Konsumgesellschaft führte, so Zygmunt Baumann, Soziologe und Philisoph, also ein Theorektiker des Sozialen und der Moral in der Postmoderne, zur Entwicklung eines scheinbaren Paradigmas, eines überlebensinhärenten Elements, ohne die unsere Konsumgesellschaft scheinbar nicht existieren kann: Wir müssen ohne Unterlass produzieren und konsumieren. Wer nichts produziert, bzw. wer aufgrund seiner sozialen Gegebenheiten nicht konsumieren kann, ist in unserer Gesellschaft überflüssig und wird auch so behandelt.

Mehr noch, wer andere Menschen, aus welchem Grund auch immer, daran hindert, zu produzieren und zu konsumieren, verhindert, dass andere Menschen sozial sein können und ihre Verpflichtung gegenüber der gesamten Konsumgesellschaft ausüben können.

Also: Es wird das überlebensinhärente Element einer Konsumgesellschaft, die Verpflichtung jedes Einzelnen zu produzieren und zu konsumieren, gestört und damit ist auch das empfindliche Überleben unseres fragilen, ökonomisch orientierten Systems bedroht.  Demonstranten werden plötzlich alle zu Asozialen, Chaoten und Kriminellen.

In dem Zusammenhang sind die im Vorfeld erschienen Artikel der Bild-”Zeitung” verstehbar (2), welche sich die Serie der Adventssamstags-Demonstrationen vornahm. („Warum soll ausgerechnet das Einkaufsvergnügen meiner Kunden gestört werden?“).  In diesem Sinne ist dies ein Versuch der Diffamierung der zivilgesellschaftlichen Proteste.

Demonstrationen sind Eingriffe in das scheinbare empfindliche und fragile System des sogenannten “Freien Marktes”, der “Marktkonformen Demokratie” und dadurch eine Gefahr für unsere Konsumgesellschaft. Sie müssen also, wenn wir der Logik einer extrem ökonomisch orientierten Gesellschaft folgen, mit allen Mitteln verhindert werden.

Und Menschen, die andere daran hindern produzieren oder konsumieren zu können, gelten in den Augen der gesamten Konsumgesellschaft als Störenfriede, oder eben hart gesagt, entmenschlichter „Abschaum“.

Und die Organe einer marktorientierten Demokratie müssen daher Strategien finden, um das sogenannte fragile Leben in einer Realität zu beschützen, welche von rein ökonomischen Prinzipien anscheinend geleitet wird. Dieses Paradigma ordnet das soziale und politische Leben komplett neu und ordnet alles, was wir als menschlich erachtet haben, diesem Paradigma unter. Dahingehend ist der massive Einsatz von Gewalt von der Exekutive des Staates zu verstehen, welche die Grundfesten unserer (Konsum-)Gesellschaft zu beschützen glaubt und sich im absolutem Recht versteht. Wir leben in einer Gesellschaft, von der wir noch glauben, dass sie die Gleiche ist, mit der wir aufgewachsen sind, aber sie hat sich vor unseren Augen in eine völlig anders gearteten Realität verwandelt. (Dies ist nur ein Versuch, diese Realität, irgendwie greifbar und erfassbar zu machen.)

Die traditionellen Formen zivilgesellschaftlichen Protests stehen also in einem Dilemma. Um andere Menschen auf Probleme in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen, müssen Menschen öffentlich auftreten und den Produktions- und Konsumprozess stören, damit andere Mitglieder der Gesellschaft inne halten, und die Probleme erkennen können.
Wird aber dieses “Stören” in die Tat umgesetzt, werden diese Menschen zunehmend in eine Ecke gedrängt, schliesslich kriminalisiert, aus der Konsumgesellschaft ausgeschlossen. Ihnen wird der Zugang zu Bildung verschlossen bzw. von sozialen und politischen Strukturen abgekoppelt und schließlich als überflüssig erklärt.
Die Kriminalisierung zivilgesellschaftlichem Protest von staatlichen Strukturen muss also auch in dem Zusammenhang der Umstrukturierung zur Konsumgesellschaft gesehen werden. Die Krawall-Nomaden erweisen all denen, die an einer ernsthafen Auseinandersetzung mit diesen Problemen liegt, einen Bärendienst.

Wir stehen also mitten innerhalb einer Zeitenwende. Die Ereignisse in Frankfurt und die empörenden Gewaltausbrüche des 21. Dezembers in Hamburg haben gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Die Opfer unter Polizei und Demonstranten sind nicht nur beklagenswert, sondern verurteilungswürdig.
Wir müssen uns aber den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen, friedlich, aber auch konsequent. Wir brauchen eine menschenfreundliche Gesellschaft und Politik. Eine Kriminalisierung der eigenen Bevölkerung muss verhindert werden.
Dazu  brauchen wir aber eine starke Zivilgesellschaft und Formen friedlichen Protests, welche noch scheinbar gefunden werden müssen.

Lesen Sie auch:
Interview: “Ein stiller Putsch” – Der Kampf der freien Künstler

.
Leser-Telefon:

Sagen Sie Ihre Meinung! Ihr Leser-Telefon: +49 (0) 2779-216 658
Sie können Ihre Meinung/Anregungen ebenso über das “Kommentar-Formular” einsenden.


Quellen – weiterführende Links

Foto: Polizeieinsatz Hamburg 21.12.2013  ©  Dan Thy
Foto: “Der Schwarze Block” © politropolis.de
(1) Der Spiegel “Krawalle in Hamburg
(2) Bild: “..Randale befürchtet…”

Hier können Sie sich in die Mailingliste des
Hamburger Künstlers Dan Thy eintragen: <News-Mailingliste>