Ob in der Tagesschau oder bei Springer, im Spiegel oder bei heute: alle erklärten sie, dass es am vergangenen Samstag die Menschen weltweit nur deshalb auf die Straßen gezogen hat, weil eine unbändige Wut auf die Finanzwirtschaft in ihnen gärt. Vulgärer sprachen manche Qualitätsmedien von der Gier der Banken, die die Occupy-Bewegung formierte. Vornehmer ausgedrückt schob man die Rekapitalisierungsabsichten und - vorhaben als Protestmotiv vor. Doch das ist nur ein unzureichendes Erklärungsmuster.
Verknappung der Motive geht am inhaltlichen Kern vorbei
Die Leute okkupierten aus mehreren Gründen öffentliche Plätze. Die letzten Ereignisse rund um das Banksterwesen waren die Tropfen, den den Bottich überlaufen ließen. Aber der war schon reichlich angefüllt. Der Bottich war schon vormals übervoll an Wut über die Fratze, die der Kapitalismus, auch als freier Markt bekannt, zeigte. Es waren ja nicht Banken, die rationalisierten, Personal abbauten, für den Profit jede Verantwortung aufgaben, Standorte wechselten, Subventionen kassierten, ohne der Gesellschaft etwas dafür zurückzugeben, Arbeitsbedingungen sukzessive verschlechterten. Das alles wurde natürlich durch die Spekulativwirtschaft forciert - aber ausführende Organe waren die Konzerne, die zu allem Überfluss auch noch ihren Lobbyisten den Auftrag gaben, in den Hauptstädten für moderate Steuersätze zu sorgen. Das alles, so hat man jahrelang proklamiert, geschähe nur zu unser aller Wohl. Das schaffe nämlich Wachstum und damit einen Aufschwung und somit Arbeitsplätze und Wohlstand. Geführt hat das alles nur zur Entmenschlichung, zu fehlenden Zukunftsperspektiven, hat Arbeitnehmer aus Furcht noch flexibler und mobiler gemacht und Arbeitslose aus Perspektivenmangel illusionslos. Das alles mündete in eine Gesellschaft, die sich rein auf Kosten und Nutzen fokussiert hat. Und es hat eine ganze Branche aus dem Boden gestapft, die den unzufriedenen Menschen Optimismus und positives Denken vermitteln soll - genug fühlen sich durch dieser Optimistenterror verarscht.
Der Kern der Proteste war und wird sein, dass die Menschen eben nicht nur den Banken ans Schlafittchen wollen, sondern diesem Kapitalismus, wie er sich unter neoliberaler Ägide zeigt. Sozialismus ist nicht mal deren Ziel, darf man annehmen - man nenne das Ding wie man will, deretwegen auch Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, wenn das überhaupt möglich ist. Sie wollen hauptsächlich nicht mehr die bloße Verfügungsmasse vermeintlich höherer Interessen sein, sondern freie Entfaltungsmöglichkeiten haben, freie Individuen sein, die ein Recht auf eine halbwegs freie Zukunftsgestaltung haben. Die Menschen schwappen nicht nur auf die Straßen, weil Banken asoziale Methoden anwenden, die gegen das Allgemeininteresse stoßen. Das ist ein Motiv - aber nicht das Motiv. Es war das i-Tüpfelchen, das nun endlich zum Protest führte. Es geht um generelle Rehumanisierung der Ökonomie - es geht gegen eine ökonomische Höllenfahrt, bei der menschliche Schicksale fatalistisch mit in den Schlund gerissen werden. Eine Höllenfahrt, die nicht nur Banken und Börsen bereiten, sondern Konzerne und deren Lobbyverbände - es geht gegen deren Menschenbild, nach dem der Mensch nützlicher Erfüllungsgehilfe des Produktionsablaufs zu sein hat, um einen kleinen Happen Würde erhaschen zu dürfen.
Verknappung der Motive erzeugt gefährliche Verbündete
Zudem wurde berichtet und von so genannten Fachleuten unterstrichen, dass nicht nur ordinäre Bürger Unmut entwickelten. Auch die Wirtschaft, die Vertreter großer Unternehmen, hätten mittlerweile einen dicken Hals wegen der Banken, die uns alle - arm wie reich, ganz unten wie ganz oben - ins Unglück katapultieren würden. Selbst Politiker, die jahrelang im Sinne dieser Unternehmen Gesetze verabschiedet haben, die uns als Solidargesellschaft zerstört haben, sprachen mehr oder minder verstohlen den Protestlern ihre Solidarität aus. Mindestens aber erklärten sie, sie könnten den Protest nachvollziehen. Bei einem Protest, der als nur gegen Banken gerichtet dargestellt wird, gesellt sich das Entrepreneuriat doch gerne dazu.
Diese überraschenden Befürworter der Proteste tun nun also so, als sei alles der Finanzwirtschaft in die Schuhe zu schieben, als seien sie jahrelang lediglich Getriebene der Banken gewesen. Es wird reichlich eng im Waschbecken, in dem Hände sich in kühlster Unschuld geschrubbt werden. Es sind gefährliche Befürworter, die Occupy! da erfährt. Wölfe, die flauschigstes Lammfell um ihren Korpus gerafft haben. Sollten sich diese Pharisäer an die Spitze der Bewegung setzen, so kanalisieren sie den Kernantrieb der Bewegung. Das, was die Unzufriedenen zum Protest treibt, es würde unter Leitung empörter Unternehmer nicht angetastet. Bankenkontrolle würden sie sicherlich forcieren - auch ganz zu ihren Gunsten, versteht sich. Aber die eingeforderte Fairness, die Humanisierung, die man der Wirtschaft abnötigen möchte, das alles ist dann kein Thema mehr. Denn mehr als die Banken sind es seit Jahren die Großkonzerne und ihre Subunternehmen und Unternehmenstöchter, die den mobilen, flexiblen, allzeit sklavischen Arbeitsmenschen ohne Zukunftssicherheit züchteten. Sie haben die völlige Anpassung des Menschen an die Wirtschaft propagiert. Das haben auch hohe Bankster - aber die waren es nicht alleine...