Gute Chancen beim Schopf packen - das ist das Lebensmotto von Günther Wittrin. "Von einem, der stets die Gelegenheit ergriff" erzählt seine Autobiografie, die er zusammen mit Mareile Seeber-Tegethoff geschrieben hat. Ein Blick hinein...
Unaufhörlich grollt der Donner der russischen Artillerie durch die kalte Nacht im Februar 1945. Irgendwo zwischen Danzig und Gotenhafen müht sich der 16-jährige Günther Wittrin auf einem platten Fahrrad ab. Er muss ein Schiff erreichen, um dringende Nachrichten nach Berlin zu bringen, aber die Chancen stehen schlecht. Plötzlich hält neben ein ihm ein deutscher Militärlaster und bietet eine Mitfahrgelegenheit auf der Ladefläche an. Wittrin zögert nicht. Er nutzt die Gelegenheit, und quetscht sich zwischen hoch gestapelten Zeitungen. Derart geschützt überlebt er den Kugelhagel russischer Angriffe und schafft es rechtzeitig zum Dampfer. Nicht lange nachdenken, sondern gute Chancen beim Schopf packen - das ist das Lebensmotto von Günther Wittrin. "Von einem, der stets die Gelegenheit ergriff" erzählt seine Autobiografie, die er zusammen mit Mareile Seeber-Tegethoff geschrieben hat.
Nicht nur Spitzensportler engagieren geübte Biografien, die dabei helfen, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Auch Privatpersonen wie das Kriegskind Günther Wittrin können so genannte Lebensbücher in Auftrag geben. Seltener ist es dagegen, dass solche Bücher in den Handel kommen. Um es vorweg zu nehmen: Dieses Buch hat es verdient, weil sowohl die Lebensgeschichte als auch die dahinter stehende und Lebenseinstellung lesenswert und einfühlsam im Stil der Erzählung eingefangen sind. Zunächst fallen die vielen kurzen Sätze auf, fast ein Telegrammstil, die Erwähnung zahlreicher, Details und Erinnerungsfetzen, die - bunt zusammengewürfelt - keine große Linie erkennen lassen. Aber unmerklich rücken die Mosaiksteine zu einem Stimmungsbild des bewegten Teils der Weltgeschichte zusammen, in dem Günther Wittrin lebt und wirkt. Wittrin ist ein Kriegskind, das in einer friedlichen deutsch-polnischen Mischgesellschaft aufgewachsen ist, bis Rassismus und Nationalismus dieses Miteinander gewaltsam auseinander gerissen haben.
Diese Kindheits- und Jugenderfahrungen prägen Wittrins Leben und seine Lebensgeschichte. Über die Hälfte seines Lebensbuches widmet Wittrin der Zeit bis 1945. Die Bruchstücke seiner Erinnerungen erscheinen von Seite zu Seite zusehends sympathisch vertraut hingeworfen, ganz so, als habe man diese Lebensgeschichte selbst erlebt. Dabei werden die Erinnerungen ohne Wertungen und Urteile präsentiert, die Urteile vielmehr dem Leser überlassen. Das ist bisweilen härter, als sie bereits leicht verdaulich serviert zu bekommen!
So scheint Günther Wittrin auch im Leben vorzugehen: er vermeidet im Wesentlichen Wertungen und beschränkt sich auf eine Beobachterrolle. Und dabei fackelt er nicht lange: Er entscheidet schnell, lässt Stillstand nicht zu, unterwirft sich im Notfall dem Unausweichlichen, hält Anspannung, harte körperliche Arbeit, wie auch Erniedrigung, ohne Murren aus.
Er schildert die Wirkungen der Entscheidungen der großen Entscheider auf die Basis, auf die Bevölkerung, in einer undramatischen Weise. Von Bedeutung sind die Handlungen nur dort, wo sie geschehen. Der Atomtest auf Novaja Semlja ist nur das Zittern einer 0,5µ dicken Membran, „der Engländer“ richtet Sperrzonen ein und der Bauer hat die Frühjahrsbestellung abgeschlossen.
Die Botschaft: Du hast die Chance durch zu kommen, wenn du die Gelegenheiten beim Schopf packst, es hat keinen Zweck, Unabänderliches zu bekämpfen, aber du kannst „nein“ sagen! Seine Arbeit muss man fröhlich ausführen – oder sich eine andere suchen.
Günther Wittrins Autobiografie prahlt nicht, langweilt nicht und beschönigt nicht. Sie lädt die Leserinnen und Leser mit verschmitztem Lächeln und freundlicher Umarmung ein zu einer Lesereise durch ein Leben voller Höhen und Tiefen, das mit frohem Mut gemeistert wurde, auch an seinen übelsten Stellen. Das geht unter die Haut.