Auf ein Wort mit Günter Netzer: Ein paar Stunden vor dem Rückrundenauftakt der Fußball-Bundesliga und seinem Auftritt bei Waldis Club im Ersten empfängt der einstige Nationalspieler und TV-Partner von Gerhard Delling news.de zum Espresso in einem Leipziger Nobelhotel. «Sie dürfen alles fragen», sagt Netzer vor dem Gespräch. Na dann los.
Herr Netzer, Sie waren in den 1960er und 1970er Jahren der coolste Typ der Bundesliga. Wer ist heute der Trendsetter – gibt es einen legitimen Netzer-Nachfolger?
Günter Netzer: Das ist ein hochinteressantes Thema. Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass wir arm an Persönlichkeiten sind. Das ist nicht nur im Fußball der Fall, sondern ein allgemeines Problem unserer Zeit. Und das spiegelt sich natürlich auch im Fußball wider.
Weshalb ist das so?
Netzer: Unbequeme Persönlichkeiten sind im Fußball nicht gefragt. Es konzentriert sich alles auf das Sportliche. Ablenkungen von den sportlichen Verpflichtungen, die die Spieler haben, sind nicht gern gesehen. Privatinitiative auch nicht, auch weil es die Zeit der Profis gar nicht zulässt. Die sind heute im Vergleich zu meiner aktiven Zeit extrem eingebunden in ihren Klubs.
Und rein spielerisch? Wer ist aus Ihrer Sicht der Frontmann der aktuellen Spielergeneration?
Netzer: Ich bin immer der Meinung gewesen, dass die Show, die man als Fußballer macht, nicht abseits des Fußballplatzes stattfinden darf. Alles, was auf dem Spielfeld stattfindet, ist der Kern. Falls das Drumherum das Hauptaugenmerk besitzt, ist das einfach Zirkus. Der Fußball muss im Mittelpunkt stehen. Und da sind wir in Deutschland mit den jungen Leuten glänzend aufgestellt. Die haben sich bei der Weltmeisterschaft 2010 in den Vordergrund gespielt – und diese Entwicklung geht erfreulicherweise immer weiter.
Marco Reus ist gerade in aller Munde. Er ist wie Sie einst bei Borussia Mönchengladbach kometenhaft aufgestiegen. Sehen Sie Parallelen?
Netzer: Er ist ein ganz anderer Spieler als ich es war. Marco Reus ist ein großes Talent, der in hohem Maße mitverantwortlich dafür ist, dass es in Gladbach so gut läuft. Seine Entwicklung ist dabei noch lange nicht abgeschlossen. Er hat mit dem Wechsel nach Dortmund den richtigen Schritt gemacht, weil er sich dort am ehesten aufgehoben fühlt. Schon jetzt fühlt er sich wohl bei dem Gedanken daran, dass er zum BVB geht. Er spürt, wo seine Wurzeln liegen.
Glauben Sie, dass Reus der genialste Spieler bei Borussia Mönchengladbach ist, seitdem Sie am Niederrhein aufgehört haben?
Netzer: Ich mag diese Generationen übergreifende Vergleiche nicht. Die hinken meist. Jede Gladbacher Generation hat große Spieler gehabt: Matthäus, Effenberg. Reus ist erfrischend, ein begnadetes Talent. Er allein hat seinen weiteren Weg in der Hand.
Seite 2: Netzer über Spieler- und Trainertypen – Reus, Götze, Großkreutz und Klopp
Mario Götze gehört genau wie Reus zur Avantgarde des deutschen Fußballs. Wie werden sich beide beim BVB ergänzen?
Netzer: Für Spieler, die so viel mitbringen wie diesen beiden, wird natürlich gemeinsam Platz in der Startelf sein. Wo genau Jürgen Klopp beide unterbringt, wird man dann nächstes Jahr sehen. Nahtlos miteinander vergleichen kann man diese beiden Spieler ohnehin nicht. Beide sind natürlich technisch hervorragend – Götze noch eine Spur besser. Jeder wird auf seine Art wertvoll für den BVB sein. Für die Dortmunder war der Reus-Transfer viel Geld, aber lohnenswert investiert – absolut.
Reus hat sich für Dortmund und gegen Bayern München entschieden, auch weil der BVB derzeit der bei den jungen Spielern angesagteste Verein ist. Spieler und Fans haben offenbar Sehnsucht nach authentischen und emotionalen Typen wie Klopp.
Netzer: Authentizität ist ein Zauberwort der heutigen Zeit. So wie Jürgen Klopp tatsächlich ist, lebt er das auch in der Öffentlichkeit aus und erreicht damit seine Mannschaft und die Fans, wie es besser nicht geht. Er spricht die Sprache der jungen Leute und die vertrauen ihm.
War Klopps Verpflichtung einer der klügsten Schachzüge der vergangenen Jahre im deutschen Fußball?
Netzer: Sicher. Er hat aber auch eine Ansammlung von erstklassigen Spielern zusammen, die seine Vorgaben erfüllen. Ein tolles Werk, das beim BVB auf die Beine gestellt worden ist – und das fängt gerade erst an, das ist noch lange nicht zu Ende.
Sie glauben, dass Borussia Dortmund dem Branchenprimus Bayern München dauerhaft Konkurrenz machen kann?
Netzer: Ich sehe keinen Grund, warum das zusammenbrechen sollte.
In Berlin hat man gerade gesehen, wie schnell Männerfreundschaften auch zerbrechen können.
Netzer: Die Gefahr gibt es immer. Aber ich sehe Führung, Trainer und Mannschaft beim BVB sehr gefestigt. Dazu kann sich der Klub der Fanunterstützung genauso sicher sein wie der Einnahmen. Da wird in den kommenden Jahren weiter ein gesundes Wachstum stattfinden.
Die Klopp-Mentalität scheint auch auf die Mannschaft abzufärben. Spieler wie Mats Hummels oder Kevin Großkreutz stechen aus dem Einheitsbrei in der Bundesliga heraus. Großkreutz hat für den Rückrundenstart die BVB-Fans aufgefordert, die teuren Stehplätze beim Gastspiel beim Hamburger SV zu boykottieren. Eine Revoluzzer-Aktion nach Ihrem Geschmack?
Netzer: Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wenn man die Fans auffordert, die eigenen Spiele nicht zu unterstützen, dann ist das schon ein Engagement, das weit über die geübte Praxis hinaus geht. Ich weiß nicht, ob ihm der normale Fan da folgt. Ich hätte das nicht als meine Aufgabe betrachtet. Aber wenn er es so fühlt … Er hat damit bekundet, dass er die Preise als Unverschämtheit empfindet. Aber ob das seine Angelegenheit ist, ist eine andere Sache.
Aber wie wichtig sind solche mündigen Charaktere mit Persönlichkeit für eine Mannschaft?
Netzer: Persönlichkeit nutzt zunächst einmal nur etwas, wenn man sie auch in schwierigen Situationen auf dem Platz zeigt. Wenn man darüberhinaus auch außerhalb des Platzes eine Persönlichkeit ist, ist das ein Idealzustand. Doch das Bedarf einer Entwicklung, weil das Lebenserfahrung dazugehört, große Spiele, Aufs und Abs. Mit 19, 20 Jahren kann das noch nicht vorhanden sein. Niederlagen und Glücksgefühle, auch Verletzungen, hinterlassen Spuren und Narben, die den Menschen formen und den Fußballer auch.
Seite 3: Netzer über Moderatorentypen – Delling und Scholl
Welche Erfahrungen dieser Art waren für Sie die wichtigsten während Ihrer aktiven Karriere?
Netzer: Das war mein Wechsel nach Spanien. Dass ich aus Mönchengladbach raus kam in eine Weltstadt, zu Real Madrid, dem Weltklub der damaligen Zeit. Ich sprach kein Spanisch, dazu war man Ausländern damals sehr misstrauisch gegenüber. Ich musste mich beweisen und mich das erste Mal in meinem Leben durchsetzen.
Mit Erfolg.
Netzer: Das geschafft zu haben, hat mich sehr geprägt. Das hat positive Spuren hinterlassen und mich vorwärtsgebracht.
Haben Sie Kontakt zu Mesut Özil, Sami Khedira oder Nuri Sahin, die aktuell bei Real spielen?
Netzer: Nein, ich hatte schon zu meiner Zeit bei der ARD zu keinem der Nationalspieler näheren Kontakt. Ich habe das immer vermieden, habe die ihren Job machen lassen und wollte nicht zu nah an die Mannschaft ran. Das habe ich als nicht opportun empfunden.
Dafür war der Kontakt zu ihrem Moderations-Partner Gerd Delling besonders eng. Ist ihre Verbindung auch nach ihrem Ausstieg unverändert gut?
Netzer: Wir sind erstklassig befreundet. Das ist keine Floskel. Wir sehen uns und telefonieren so oft wie möglich. Das ist zuletzt eher intensiver geworden.
Wie beobachten Sie Mehmet Scholl als Ihren Nachfolger?
Netzer: Er ist ein legitimer Nachfolger, das habe ich schon von Anfang an so gesehen. Das ist unstrittig der Richtige.
Sie haben seit ihrem TV-Abschied nach der WM 2010 wieder mehr Zeit. Haben Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt vorstellen können, wieder bei einem Klub zu arbeiten? Zum Beispiel während der Schieflage des HSV in den vergangenen Monaten?
Netzer: Das war nie ein Thema. Als ich 1986 beim HSV ausgestiegen bin, habe ich gesagt, dass man mich nie mehr in einer Funktion im aktuellen Fußballgeschäft sehen wird. Weder als Manager noch als Präsident. Diese Entscheidung war damals richtig und heute erst recht.
Seite 4: Netzer über Bayern-Typen – Hoeneß und Heynckes
Ihr alter Fahrensmann Uli Hoeneß – auch als Bayernpräsident einer der prägenden Typen der Liga – hat jüngst im großen Stil seinen 60. Geburtstag gefeiert. Was haben Sie ihm geschenkt?
Netzer: Dem muss man nichts schenken. Viele sind gekommen und haben mit ihrer Anwesenheit ihre Wertschätzung dokumentiert. Das ist Geschenk genug gewesen für ihn.
Sind Sie darüber erstaunt, wie Ihr alter Kumpel Jupp Heynckes sich auf seine alten Tage entwickelt hat und den FC Bayern souverän führt?
Netzer: Von seinen Fähigkeiten her habe ich das sehr wohl für möglich gehalten. Erstaunlich ist für mich, dass er noch einmal zurückkommen wollte. Aber wenn er von etwas überzeugt ist, dann macht er seine Arbeit akribisch genau und ist besessen davon. Und die jungen Leute folgen ihm – ein Volltreffer für die Bayern.
Sie waren über Jahre der prominenteste Kritiker der Nationalmannschaft, haben sich aber nie zugetraut, selbst eine Mannschaft zu führen? Warum, Sie hätten alle Anlagen gehabt?
Netzer: Eben nicht. Ich kann mich sehr gut selbst einschätzen und habe immer gewusst, dass ich das unter keinen Umständen kann.
Haben Sie sich da nicht selbst unterschätzt? Sie hätten auch als Trainertyp neue Maßstäbe setzen können.
Netzer: Überhaupt nicht. Ich weiß genau, was ich kann und ich weiß vor allem, was ich nicht kann. Ich könnte nicht so arbeiten wie die Trainer. Ich hätte keine Geduld, ich hätte keine Methode, keine Strategie mit den Spielern umzugehen, sie vorzubereiten, sie weiterzuentwickeln. All diese Dinge fehlen mir sehr. Ich habe mich schon immer auf der organisatorischen, kaufmännischen Seite gesehen, als dass ich auf dem Platz sehe.
Günter Netzer absolvierte von 1963 bis 1973 297 Bundesligaspiele für Borussia Mönchengladbach und schoss dabei 108 Tore. Danach wechselte der gebürtige Mönchengladbacher zu Real Madrid und beendet seine aktive Karriere bei Grasshoppers Zürich. Für die deutsche Nationalmannschaft lief Netzer 37 Mal auf, wurde Welt- und Europameister 1974 und 1972. Nach seinem Abschied als Manager des Hamburger SV 1986 widmete sich Netzer dem Sportrechtegeschäft. Zum zweiten Mal nach seiner Fußballerlaufbahn berühmt wurde Netzer an der Seite von Gerhard Delling als TV-Experte. Heute handelt der 67-jährige als Direktor der Schweizer Sportrechteagentur Infront mit Fußball-, Skisport-, Handball und Basketballrechten.
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Günter Netzer exklusiv – «Der Fußball ist arm an Persönlichkeiten»
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