Selten habe ich beim Buchkauf eines mir unbekannten Autors kürzer gezögert als beim „Club der unverbesserlichen Optimisten“. Titel, Coverbild und Klappentext ließen in der Kombination ein Zögern nicht zu – dieses Buch musste ich haben. Danach kann man im Grunde fast nur enttäuscht werden. Aber nicht hier. Guenassias Buch gehört zu den schönsten, die ich die letzten Jahre gelesen habe.
Klappentext
Paris in den 1960er Jahren. Der junge Michel taucht ein in ein ganz neues Leben: Er entdeckt die Welt des Rock’n’Roll, atmet die Luft der Intellektuellen und Literaten, die mit Gitanes-Zigaretten und Sartre-Bändchen in den Cafés und auf den Boulevards eine neue Zeit diskutieren. Eines Tages stößt er im Hinterzimmer eines Bistros zufällig auf den „Club der unverbesserlichen Optimisten“. Hier trifft er auf Menschen, die zu Freunden werden, zu Vertrauten und Begleitern. Als er schließlich seine erste große Liebe erlebt, verändert sich alles
Der erste Satz
Heute wird ein Schriftsteller beerdigt.
Wieder einmal Paris in den 1960ern. Die Welt wandelt sich, steht kopf. Veränderungen durchdringen festzementiert geglaubte Anschauungen und Lebensmodelle. Eine gute und zugleich verwirrende Zeit zum Heranwachsen. Michel Marini ist zu Beginn des Buches erst zwölf und ahnt bereits dennoch, dass kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Das gilt im Großen wie im Kleinen der Familie. Die väterlichen Marinis stehen sich unvereinbar den mütterlichen Delauneys gegenüber. Proletariat gegen Kapitalismus, Kleinbürgertum gegen Bourgeoisie, Vater gegen Mutter. Die Mutter wird zeitlebens nicht über die Schmach hinwegkommen, dass ihr Mann jegliche Ambitionen zum Vorankommen vermissen lässt und entfernt sich innerlich vom Familienleben, das sie zu sehr an ihr verpfuschtes Leben erinnert. Dazu die Tragödie um Michels älteren Bruder Franck. Dieser meldet sich freiwillig zum Algerieneinsatz der Franzosen, erschießt einen Offizier und befindet sich als Deserteur und Mörder jahrelang auf der Flucht. Das ist zuviel für eine Ehe.
Und es ist auch zuviel für einen heranwachsenden Jungen. Michel versucht die elterlichen Spannungen und Brüche zu kitten und als das nicht gelingt, diese zu negieren. Er stürzt sich kompromisslos in die Literatur, leiht Unmengen an Büchern in der Bibliothek aus und liest sich bei jeder Gelegenheit weit weg. Daneben hängt er bei den Freunden seines Bruders herum, hört ihre Musik und atmet erstmals den Geschmack von Freiheit und Aufbegehren, der in der Luft der Boulevards und Cafés hängt. Durch Zufall gerät er in einem dieser Cafés in ein Hinterzimmer, in dem der „Club der unverbesserlichen Optimisten“ tagt. Sämtliche Mitglieder dieses Clubs sind Einwanderer aus Osteuropa – Künstler, Intellektuelle, Chirurgen, die alle das Schicksal aller Exilanten teilen. Berufsverbot, Gelegenheitsjobs unter der eigenen Würde, Verlust geliebter Menschen und aller Habe.
Eines Tages erklärte Igor mir die spitzfindige Definition, die die Mitglieder des Clubs in zwei auf ewig unversöhnliche Kategorien teilte. Die Nostalgiker, die mit dem Sozialismus gebrochen hatten, und diejenigen, die noch immer daran glaubten und weiterhin in unlösbaren Dilemmas steckten. Offene, schmerzende Wunden. (…) Tiefsitzende Konflikte, alte Verstimmungen Osteuropas kamen an die Oberfläche.
Michel Marini wird als vollwertiges Mitglied im Club aufgenommen. Er spielt mit seinen neuen Freunden stundenlang Schach, lernt Sartre und Kessel kennen, zuckt ob der heftigen Auseinandersetzungen zusammen und feiert die anschließenden Versöhnungen. Michel lässt sich als Ziehsohn gleich vieler Vaterfiguren aufnehmen und kompensiert mit deren Fürsorge sein zusammenbrechendes Elternhaus. Nach den ersten Begegnungen im Club ändert sich die Buchstruktur. Es erzählt nicht mehr nur Michel aus der Ich-Perspektive eines Heranwachsenden. Guenassia variiert seinen Stil und berichtet vom Leben der Exilanten, deren Schicksalen. Wie es ist, alles zurück lassen zu müssen und fortan in der Illegalität zu leben. Wie es ist, in der Fremde zu leben und die Heimat unwiderruflich verloren zu wissen. Diese Passagen lesen sich mit einem veränderten Tenor – anspruchsvoller, gesetzter. Nicht wie das ziellose Herumstochern eines Jugendlichen im Nebel der eigenen Unkenntnis.
Guenassia hat nach eigener Aussage Michel als Fährmann angelegt, der zwischen allen Personen vermittelt und die Fäden der Handlung zusammenführt. Auch wenn es anfangs den Anschein hat, „Der Club der unverbesserlichen Optimisten“ ist mitnichten ein klassischer Bildungsroman, der vom Erwachsenwerden handelt. Michel ist der Brennpunkt, aber nicht das Hauptanliegen. Ich habe das Buch in erster Linie als Erklärung für die Vielzahl der Spannungen und Konflikte gelesen, die unseren Kontinent bis in die 1990er Jahre gespalten haben. In unendlich vielen Anekdoten, Nebenplots und Beiläufigkeiten vermittelt Guenassia das lebendige Bild einer Epoche, die den Schrecken zweier Weltkriege verdaut hat und sich nun fassungslos der geopferten Dinge gewahr wird. Michel bündelt all das und ist dabei nur ein Junge, der von seiner ersten Liebe überwältigt wird.
Was bleibt?
„Der Club der unverbesserlichen Optimisten“ handelt von Intellektuellen, kommt aber nicht intellektuell daher. Es ist ein wundervoll melancholisches, liebevolles und heiteres Buch über Menschen, die einem ans Herz wachsen. Guenassia konstruiert keine Stereotypen, sondern füllt das Café mit einzigartigen Typen, die einzigartige Geschichten zu erzählen haben. Und es ist ein Buch, das einen den nächsten Paris-Besuch ins Auge fassen lässt. Wer schon einmal im Jardin de Luxembourg und im Quartier Latin war, wird bei deren Beschreibung wehmütig berührt daran zurückdenken; wer noch nicht da war, wird beschenkt von Bildern, die der Realität in nichts nachstehen. Wundervolle Literatur!
Guenassia, Jean-Michel: Der Club der unverbesserlichen Optimisten (Original: Le Club des Incorrigibles Optimistes). Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Erstmals erschienen 2009.
Taschenbuchausgabe: it. 685 Seiten. ISBN 978-3-458-35836-7. € 9,99.