Wowereits Entscheidung wird von grünen Spitzenpolitikern scharf kritisiert. Es bestehen Zweifel daran, dass der Regierende ein Bündnis mit den Grünen überhaupt ernsthaft gewollt habe. Außerdem wird sein Rückzug als negatives Signal in Bezug auf einen möglichen Machtwechsel auf Bundesebene im Jahr 2013 gesehen.
Während der Ausbau der A100 als unüberwindliches Hindernis für eine Zusammenarbeit der Fraktionen dargestellt wird, spielen SPD und CDU ihre im Wahlkampf immer wieder betonten programmatischen Unterschiede herunter.
Henkel: Keine unüberbrückbaren Gegensätze zwischen SPD und Union
Der Berliner Wahlkampf ist vorbei und die bisherigen Gegner SPD und CDU signalisieren plötzlich Einigkeit. Noch 12 Tage vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus hatten sich Klaus Wowereit und Frank Henkel beim rbb ein erbittertes Duell geliefert. Die SPD kritisierte im Nachgang per Flugblatt die „rückwärtsgewandeten Konzepte“ der CDU und Frank Henkel betonte, dass die rot-rote Koalition Berlin in eine katastrophale Lage regiert habe.
Ein Blick in das Berliner CDU Wahlprogramm zeichnet allerdings ein anderes Bild:
Die CDU will die Wirtschaft in Berlin durch eine stärkere Zuwendung auf private Investoren beleben. Hierzu sollen öffentlich-private Partnerschaften eingegangen, Anreize für private Investoren geschaffen und eine wirtschaftsfreundliche Verwaltung eingerichtet werden. Insgesamt soll so privates Wachstumskapital nach Berlin geholt werden. In diesem Zusammenhang spricht sich das Programm auch für eine ausgedehnte Finanzierung privater Schulen aus öffentlichen Mitteln aus und bringt die Option zur Privatisierung des Strafvollzugs ins Spiel.
Überhaupt sollen Angriffe auf Polizisten und Übergriffe „linker Krawallmacher“ ebenso hart und konsequent sanktioniert werden, wie „Graffiti-Schmierer“ und „autonomer Gewalttäter“. Konkret fordert die CDU hierzu eine Ausweitung der Video-Überwachung, ein geschlossenes Heim für jugendliche Straftäter, die Einstellung von 250 zusätzlichen Polizisten und eine weitgehende Vernetzung von Jugendhilfe, Justiz, Polizei und Schulen.
Das Programm betont an mehreren Stellen, dass die Kriminalstatistik von Migranten dominiert wird, plädiert auf die Einrichtung spezieller Schulklassen für Schüler mit guten Deutschkenntnissen und will die Auseinandersetzung mit dem „SED-Unrechtssystem“, ebenso wie bisher schon die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit, zum zentralen Unterrichtsgegenstand in Berlins Schulen machen.
Angesichts des knappen Ergebnisabstands (SPD = 28,3 %, CDU = 23,4 %) und der Position der CDU als Königsmacher für Klaus Wowereit muss man allerdings davon ausgehen, dass sich Frank Henkel in Bezug auf viele Sachfragen durchsetzen wird. Ob das die Berliner Wähler, von denen sich weniger als ein Viertel für die Konzepte der Union entschieden hatten, erfreuen wird, muss bezweifelt werden.
Grüne über Wowereit: Trickserei, Party und ein negatives Signal für den Bund
Der grüne Bundestagsabgeordnete Hans Christian Ströbele bezeichnet Wowereits Vorgehen als „Trickserei“. Grünen-Chef Cem Özdemir wirft dem Regierenden vor, dass er „lieber Party möchte“ und sieht in dessen Rückzug ein deutliches Signal, „dass es möglicherweise auch die Alternative gibt, eine sogenannte große Koalition im Bund zu machen“.
Auch Grünen-Parteichefin Claudia Roth macht auf die Kompromissbereitschaft der Grünen in Sachen Autobahnbau aufmerksam und kommt gegenüber der Frankfurter Rundschau zu dem Schluss: „Rot-Grün scheitert also nicht an der A100, sondern an Wowereits fehlender Bereitschaft, überhaupt auf einen potenziellen Partner zuzugehen und uns auf Augenhöhe zu begegnen.“
Insgesamt zeigt man sich bei den Grünen also deutlich enttäuscht vom Ausgang der von der SPD nur halbherzig geführten Koalitionsgespräche und macht auf die negativen Auswirkungen von Wowereits Entscheidung auf die Wahlkampf- und Koalitionsstrategie für 2013 aufmerksam. Dem Kölner Stadtanzeiger sagt Volker Beck hierzu: „Das ist keine kluge Entscheidung im Hinblick auf die Ablösung von Schwarz-Gelb im Bund. Das Ziel wird dadurch verunklart.“
Ganz anders wird das Berliner Debakel in der SPD gesehen:
SPD: Leichte Enttäuschung aber keine Auswirkungen auf Bundesebene
Gegenüber dem rbb-Inforadio betont Wowereit heute, dass die SPD die schwarz-gelbe Bundesregierung weiterhin gemeinsam mit den Grünen ablösen wolle. Angesprochen auf die Signalwirkung seines Rückzugs aus den Berliner Koalitionsverhandlungen sagt der regierende Bürgermeister: „Das hat keine Auswirkung auf die Bundesebene. Da ist eine andere Situation“.
SPD-Chef Gabriel weist den Grünen die Schuld am Scheitern der Gespräche zu und fordert die Partei dazu auf, ihre kritische Haltung gegenüber Verkehrsprojekten zu überprüfen. Autobahnen, Schienenwege, Stromtrassen und Pipelines seien unverzichtbare Bestandteile der modernen Infrastruktur, die eine Grundlage für den Wohlstand in Deutschland darstellt.
Lediglich der Sprecher der SPD-Linken Björn Böhning sieht das Berliner Zerwürfnis kritisch und sagt gegenüber der Leipziger Volkszeitung: „Ein Bruderkampf zwischen SPD und Grünen schadet dem gesamten Lager. Davon hat keine Partei etwas.“
Sondersitzung der Piratenfraktion: Das Konzept zeigt Wirkung
In einer gestrigen Sondersitzung zum Scheitern der rot-grünen Koalitionsverhandlungen hat die Berliner Piratenfraktion zwei Anträgen mit den Titeln „Optionen ehrlich auf den Tisch“ und „Öffentliche Sondierungsgespräche“ zugestimmt.
Für den Fall, dass Wowereits Rückzug nicht auf inhaltlichen Diskussionen sondern auf der Sorge um die Mehrheit bei der Wahl zum regierenden Bürgermeister basierte, will die Partei Tolerierungsmöglichkeiten einer rot-grünen Regierung prüfen.
Mit dem zweiten Antrag wird beschlossen, dem Landesvorstand der Piratenpartei Berlin vorzuschlagen, entsprechende Sondierungsgespräche mit den anderen Parteien im Abgeordnetenhaus zu führen.
In der Begründung des Antrags heißt es:
Zum wiederholten Male geht die SPD unter Klaus Wowereit in Koalitionsverhandlungen mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, um diese nach kurzer Zeit abzubrechen. Die Motivation scheint dabei zu sein, sich einen für die SPD genehmen Koalitionspartner zu suchen, unabhängig davon ob dies das beste für Berlin bedeutet.
Mögliche Konstruktionen wären hierbei sowohl eine rot-grüne Regierung mit Klaus Wowereit als Bürgermeister und Tolerierung durch die PIRATEN als auch weitere Koalitionskonstellationen.
Die PIRATEN sprechen sich insgesamt deutlich gegen ein rot-schwarzes Bündnis aus und kritisieren hierbei vor allem, dass die entsprechenden Verhandlungen und Gespräche hinter geschlossenen Türen und außerhalb der Öffentlichkeit geführt wurden und werden. Eine große Koalition wird für die Stadt Berlin als negativ bewertet. Das Wahlergebnis interpretieren die PIRATEN als deutliche Absage an Rot-Schwarz.
Die offene Kommunikation der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus zeigt damit in jedem Fall Wirkung: Während die Berliner Bürger ohne die PIRATEN untätig auf „weißen Rauch“ aus den Parteizentralen warten müssten, bietet ihnen die Partei die Möglichkeit zu tieferen Einblicken in das aktuelle Koalitionskarussell. Wenn die PIRATEN jetzt hartnäckig und konsequent genug bleiben, dann werden SPD und CDU ihren Machtpoker in diesem Fall erstmalig öffentlich austragen müssen.