Es war einmal, da wollten die Grünen weder links noch rechts sondern einfach „vorne“ sein. Vorne – somit auf der Höhe der Zeit und unter Einbeziehung modernster Erkenntnisse, ohne ideologische Scheuklappen und nicht fixiert auf Überkommenes – wollten sie die Probleme dieser Welt angehen und zu lösen versuchen.
Auf manchen Gebieten sind sie auch heutzutage weiterhin dem Mainstream voraus, auf anderen weniger und auf einem Gebiet scheinen sie jetzt auf dem Marsch – nicht nach ganz hinten, aber doch ein gewaltiges Stück – zurück zu sein.
Nun, es geht, wie könnte es anders sein, um die Kinderpolitik der Grünen. Auf diesem Gebiet haben sie Einiges (mit)bewegt in den vergangenen zwanzig Jahren, man denke nur an die Gesetzesänderungen vor zehn Jahren – unter der rot-grünen Bundesregierung -, die die Beachtung des Kindeswohls als Maßstab von Erziehung normierten, Gewalt jeglicher Art (von der körperlichen Züchtigung bis zur psychischen Terrorisierung) gegen Kinder verboten und überhaupt jegliche elterliche Maßnahme, die das Kind entwürdigend behandelt, untersagten. Da hatte sich über lange Jahre ein neuer Zeitgeist mächtig Bahn gebrochen – und die Grünen waren vorne dabei.
Später richteten sie eine grüne Kinderkommission ein, diskutierten über das Kind und seine Bedürfnisse, und veröffentlichten im Juli 2006 ihre nach rationaler Diskussion gewonnenen Erkenntnisse und Vorhaben unter dem wohlklingenden Titel “Kinder in den Mittelpunkt – als Bürgerinnen und Bürger!“.
Das Wohl und die Rechte der Kinder sollten danach in den Mittelpunkt der politischen Initiative gestellt werden, Kinder wie bis dahin nur in ihrer Rolle als zu erziehendes Objekt zu betrachten – das war nun für das Museum bestimmt. Jedes Kind habe das Recht, sich bestmöglich entwickeln und ein gutes und gesundes Leben führen zu können, wozu nicht nur Chancen zu eröffnen seien, sondern in vielen Lebensbereichen auch konsequenterer Schutz gewährt werden müsse. Im Rechtssystem sei ein Perspektivwechsel zu stärkeren Rechtspositionen von Kindern erforderlich, ja bereits überfällig, und überhaupt müsse den Interessen der Kinder mehr Gehör verschafft werden, etwa durch Einbeziehen ihrer Meinungen und Wünsche in die Politik. Und überhaupt, jetzt sei die Zeit gekommen, in der eine Politik „vom Kind aus“ angesagt sei, gewissermaßen als weitere historische Veränderung anstünde. Selbst Kindergrundrechte sollten in den Artikel 6 des Grundgesetzes aufgenommen werden, beim Elternrecht, und offenbar als bedeutsamer Kontrapunkt dazu.
Als historisch bezeichneten die Grünen die Veränderungen, die sie bereits erreicht hätten. Wohl wahr – und weiter so; ein kühnes Projekt hatten sie sich vorgenommen und auch weiter an dessen Realisierung gearbeitet.
Aber dann kam der 7. Mai 2012. An diesem Tag verkündete die erste kleine Strafkammer des Landgerichts Köln etwas, was danach die einen als von historischer Bedeutung, die anderen als ungeheuerlich, als antireligiös, sogar als antisemitisch, bezeichneten: Eltern seien nicht berechtigt, ihren minderjährigen männlichen Kindern die Vorhaut entfernen zu lassen, wenn es dafür keine medizinische Notwendigkeit gäbe, so das Landgericht, das in seinem Urteil allgemeine und unveräußerliche Menschenrechte erwähnte, die auch minderjährigen Knaben zustehen, etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Selbstbestimmung und sogar das eine oder andere mehr. Nicht die Eltern sollten darüber entscheiden dürfen, ob man dem Knaben unwiederbringlich ein gesundes und funktionsfähiges Körperteil für den gesamten Rest seines Lebens (den größten Teil des Lebens mithin) entferne, sondern – so jedenfalls die Schlussfolgerung aus diesem Urteil – der Knabe müsse in späterem Alter selbst entscheiden dürfen. Ob er die Vorhaut entferne oder nicht, ob als Zeichen eines Bundes mit Gott oder als Bejahung einer Tradition oder ganz einfach so, weil er es möchte, das – so das Fazit aus dem Urteil – solle jeder Betroffene selbst entscheiden können und dürfen. Als Bürger, gewissermaßen.
Aber nun auf einmal – die Farbe auf dem Urteilspapier war kaum trocken – da sahen (führende) grüne Politiker Kinderrechte anders, da ging es schlagartig nicht mehr um das Kind und seine Rechte, da ging es stattdessen um Religionen, um Traditionen und um Elternrechte. Das Kind, jedenfalls das männliche Kind, wurde plötzlich wieder zum zu erziehenden Objekt. Das sagten sie zwar nicht direkt. Sie äußerten sich öffentlich pro Knaben-Beschneidungen um der Bedeutung religiöser Rituale und Traditionen wegen, über die Kinder als Bürger, als in der Politik zu berücksichtigende Wesen mit eigener Würde, schwiegen sie sich vollständig aus.
Etwas Differenzierung innerhalb der Grünen zeigte sich dann bei der Juli-Abstimmung im Bundestag, doch diejenigen, die vom Kind her dachten und argumentierten, waren eindeutig in Unterzahl. Was sich damals in der Debatte im Bundestag, im Eilverfahren, gezeigt hat, hat niemand treffender charakterisiert, als Winfried Hassemer, der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, der über die Abgeordneten und ihr Verhalten wertete, dass sie nicht (einmal) wissen wollten, was sie regeln wollen.
Irgendetwas an diesem Vorgehen war manchem Grünen wohl doch nicht ganz geheuer, zumal die öffentliche Debatte immer mehr an Fahrt gewann, und so liegen für den Mitte November in Hannover geplanten Bundesparteitag (Bundesdelegiertenkonferenz) etliche Anträge zum Thema Knabenbescheidungen vor.
Die vorliegenden Anträge zur Bundesdelegiertenkonferenz, von verschiedenen Antragstellern und aus verschiedenen Kreisverbänden, lehnen mehrheitlich die Beschneidung von Knaben aus nichtmedizinischen Gründen ab. Abgestellt wird zur Begründung wesentlich auf das Menschenrecht der körperlichen Unversehrtheit, das Selbstbestimmungsrecht und teils auch auf das auch Kindern zustehende Menschenrecht der Religionsfreiheit. Hervorgehoben wird, in der Tradition grüner Kinderpolitik stehend, dass die Rechte der Kinder „auch in der Auseinandersetzung mit Religion und Tradition“ weiter gestärkt werden müssen. In einem der Anträge heißt es deutlich, „die körperliche Unversehrtheit der Kinder ist das elementare Recht, hinter dem die religiösen oder traditionellen Vorstellungen der Eltern oder Erziehungsberechtigten zurückstehen müssen.“
Vom Kind her gedacht, wie dies (offizielle) Programmatik der Grünen ist, sind auch die Vorschläge, wonach der betroffene Knabe selbst entscheiden soll, ab dem Alter von vierzehn Jahren oder wie andere fordern, von achtzehn Jahren. Insgesamt steht der Betroffene im Mittelpunkt der Vorschläge, und die Argumente decken sich weitgehend mit denjenigen der Befürworter der körperlichen Unversehrtheit von Knaben außerhalb der Grünen, insbesondere den modernen medizinischen und psychologischen Erkenntnissen.
Es geht den Antragstellern keineswegs darum, umstandslos denjenigen, die weiterhin meinen, Beschneidungen seien eine Lappalie, die Ernsthaftigkeit ihrer Auffassungen abzusprechen und sie unter Kuratel zu stellen. Die Antragsteller wollen den gesellschaftlichen Dialog, sie verlangen die Schaffung eines zweijährigen Moratoriums, so wie die Deutsche Kinderhilfe und andere Organisationen und die Einsetzung eines Runden Tisches, an dem „Religionsvertreter, muslimische und jüdische BefürworterInnen und GegnerInnen der Beschneidung, Psychologen, Psychoanalytiker, Kinderärzte, Kinderchirurgen und Vertreter der Jugendhilfe sowie weitere Experten diskutieren und eine Strategie erarbeiten sollen, welche grundsätzlich alle Belange, vor allem die Belange des Kindeswohls berücksichtigt.“
Dies ist das Modell eines gesellschaftlichen Diskurses in einer pluralistischen freiheitlichen Gesellschaft, in dem diejenigen, die unterschiedliche Auffassungen haben, auf gleicher Augenhöhe und unter (umfassender) Berücksichtigung von Fakten ihre widerstreitenden Argumente abwägen, und dabei auch zu neuen Auffassungen gelangen können.
Diese Anträge stehen in einer guten GRÜNEN-Tradition, orientieren auf eine auf Aufklärung gerichtete Vorgehensweise, nehmen alle Beteiligten und ihre Argumente ernst, und – am wichtigsten wohl – sind am Knaben und dessen Belangen orientiert.
Aber diesen Vorschlägen wollen manche Grüne nicht folgen. Unter dem Titel „Gegen eine Kriminalisierung der männlichen Beschneidung aus religiösen Gründen“ wird die Weiterführung der bisherigen Beschneidungspraxis verlangt (freilich unter Berücksichtigung der „erforderlichen medizinischen und hygienischen Standards“, allerdings ohne dass erläutert wird, was das konkret bedeuten soll.) Diese Antragsteller wollen selbstverständlich auch keine weibliche Genitalverstümmelung zulassen, diskutieren dies Thema aber nicht und behaupten (unrichtig) dass die männliche Beschneidung sich „grundlegend von der Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen“ unterscheide. Von unterschiedlichen Stufen weiblicher Beschneidung haben sie offenbar noch nichts gehört, sonst wäre ihnen eine Differenzierung möglich. Sie stellen darauf ab, dass in der deutschen Gesellschaft Raum für „plurale Meinungen, Lebensstile und Lebensentwürfe“ sein müsse und erwähnen mit Stolz das Nebeneinander gesellschaftlicher Gruppen, wobei sie auf „Menschen mit Migrationsgeschichte, Frauen, LSBTTI, Menschen mit Behinderungen und religiöse Minderheiten“ verweisen. Sie verweisen auch darauf, dass die „Deutungshoheit über die eigenen Glaubensgrundsätze … der jeweiligen Religionsgemeinschaft“ zustehe, was zwar grundsätzlich richtig ist, im Zusammenhang mit ihrer Argumentation allerdings nur bedeutet, dass man sich abschotten und in nichts hineinreden lassen will. Ein Nebeneinander, aber kein Miteinander, das ist die Botschaft dieses Antrags.
Zutreffend ist zwar, dass die Veränderungen innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaften von zentraler Bedeutung sind, aber das kann nicht bedeuten, sich dem gesellschaftlichen Dialog zu entziehen. Diese Antragsteller, die fast ausnahmslos türkische oder arabische Namen tragen, scheinen in ihrer jeweiligen Tradition verankert zu sein, was unbestritten legitim ist – was aber auffällt, ist, dass sie keinerlei Bereitschaft zeigen, über diese Tradition auch nur ansatzweise zu diskutieren und neue medizinische, kinderpsychologische, sexuelle Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen. Es scheinen (betrachtet man die vorliegenden Anträge zur Knabenbeschneidung) bei den Grünen keine Mitglieder mit Migrationshintergrund vorhanden zu sein, die bereit sind, ihre Traditionen zu überdenken (wie dies Michael Wolfssohn vor einigen Wochen für die jüdische Tradition angemahnt hat). Offenbar herrscht bei diesen Grünen die Auffassung vor, die der Berliner Rabbiner Ehrenberg vehement vertritt: Wir ändern gar nichts und machen einfach weiter wie bisher, wir diskutieren nicht einmal über unsere Rituale und Traditionen!
Rabbiner Ehrenberg ist orthodox und kein Mitglied der Grünen. Dass aber grüne Mitglieder sich der Debatte verweigern, hätte vor einiger Zeit kaum jemand für möglich gehalten. Das widerspricht dem Selbstverständnis der Grünen fundamental. Gemessen an dem (öffentlich verkündeten) Selbstverständnis ihrer Partei, könnten Parteimitglieder eigentlich nur einem einzigen Vorschlag zustimmen, dem Vorschlag nämlich für ein (zweijähriges) Moratorium und die Einrichtung eines Runden Tisches; das dies nicht geschieht, zeigt, dass bei manchen die Bereitschaft zum gemeinsamen argumentativen Ringen um eine angemessene Lösung der anstehenden Problematik nicht besteht.
Unredlich freilich wäre es, unerwähnt zu lassen, dass es auch Grüne mit Migrationshintergrund gibt, die für eine offene und kritische Debatte plädieren. Es sei nur der Bundestagsabgeordnete Mehmet Kilic genannt, der sich – wie die ZEIT veröffentlicht hat – „mit Grauen“ an seine eigene Beschneidung im türkischen Malatya erinnert. Er plädiert zum einen für eine Debatte ohne Zeitdruck, zum anderen dafür, die Entscheidung vom betroffenen Knaben selbst und nicht von dessen Eltern treffen zu lassen. Er sieht völlig im Einklang mit der Kinder-Programmatik der Grünen Kinder nicht als Eigentum der Eltern an, sondern als selbstständige Individuen mit vollen Rechten und fordert, Religionen, religiöse Riten, Gebräuche und Traditionen im Licht der Vernunft und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse neu zu verstehen und zu interpretieren.
In einem eigenen Antrag an die BDK äußern sich führende Grüne (Claudia Roth, Renate Künast, Steffi Lemke, Volker Beck, Sven Giegold, Jerzy Montag, Cem Özdemir, Jürgen Trittin u.a.) und fordern, die Beschneidungsdebatte mit gegenseitigem Respekt zu führen; ihr Antrag stellt allenfalls einen Aufruf zum fairen Umgang dar, geben letztlich beiden Seiten – Befürwortern und Gegnern der körperlichen Unversehrtheit des minderjährigen Knaben – irgendwie recht, bleiben in der Sache selbst jedoch substanzlos. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass einige von ihnen derzeit in einem innerparteilichen Wahlkampf um die Spitzenplätze bei der nächsten Bundestagswahl konkurrieren und dieses Thema gegenwärtig nicht für opportun halten. Immerhin erklären sie, dass die Grünen-Fraktion im Bundestag die Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung freigeben und auf Fraktionszwang verzichten wird. Karin Göring-Eckhardt, eine weitere Konkurrentin um die Spitzenplätze, hat diesen Antrag nicht unterzeichnet. Sie – die sie die Grünen als Partei des Bürgertums verortet – vertritt eine sehr eindeutige Botschaft: Es gebe ein Recht auf Beschneidung, das gesetzlich garantiert werden müsse. Da ist er dann: Der Schulterschluss der Religiösen. Von Kinderrechten ist freilich bei dieser Politikerin, die auch beim Evangelischen Kirchentag in führender Position tätig ist, nichts zu vernehmen.
Was letztlich entschieden werden wird auf der Bundesdelegiertenkonferenz im November, ist nicht vorhersehbar. Immerhin zeigt sich in den meisten Anträgen, dass der Geist für (mehr) Kinderrechte, für ein Denken vom Kind her, bei Teilen der Grünen nach wie vor lebendig ist und nicht Ritualen und Traditionen geopfert werden soll. Und dass der lebendige Mensch wichtiger ist als ein bloßes Ritual. Das lässt hoffen. Wichtig aber ist, die eigene Position auch dann durchzuhalten, wenn der Gegenwind heftig ist. Ständige Antisemitismusvorwürfe und Beschuldigungen verunmöglichen ein Klima, in dem auf Augenhöhe und rational miteinander diskutiert wird. Auf die wiederholt vorgetragene Behauptung, durch ein Beschneidungsverbot werde jüdisches Leben in Deutschland unmöglich gemacht, hat der Jude Michael Wolffsohn schon das Nötige geantwortet. Diese unzutreffende Behauptung mag in der jüdischen Community weitererörtert werden, taugt aber nicht als Begründung für die Einschränkung von Menschenrechten.
Egal aber, wie die Grünen innerparteilich entscheiden mögen, egal, wie der der Deutsche Bundestag entscheiden wird: Das Thema ist in der Öffentlichkeit, es ist in den betroffenen Communities angekommen. Es wird debattiert und diese Debatte hört nimmermehr auf. Dafür sorgen (in erster Linie) schon diejenigen weltweit, die sich als Muslime, als Juden gegen dieses archaische Ritual aussprechen, die ihre Kinder nicht mehr beschneiden lassen, und neue medizinische und psychologische Erkenntnisse zur Kenntnis nehmen und weiter verbreiten. Dafür werden jetzt auch Betroffene sorgen: Sie haben sich – jedenfalls in Deutschland – im Jahr 2012 erstmals in die Öffentlichkeit gewagt und ihre teils traumatischen Erlebnisse bei und nach der Beschneidung beschrieben – sie haben ein Tabu gebrochen. Welch ein Mut!
Dies alles wurde in Deutschland Realität, weil am 7. Mai des Jahres 2012 ein Gericht die Menschenrechte des Knaben höher als Elternrechte gestellt hat, weil die Richter vom Kind her gedacht und geurteilt haben. Und nochmals der vormalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer – man kann ihm nur zustimmen, wenn er sagt: „Der 1. Kleinen Strafkammer des Landgerichts Köln sei Dank!“
[Erstveröffentlichung: hpd]